Ich verstehe kulturelles Kapital – in Anlehnung an die Feldtheorie – als jene inkorporierten, objektivierten und institutionalisierten Wissens- und Kompetenzformen, die Akteur:innen im Fußballfeld handlungsfähig machen (Bourdieu 1983/1986). Symbolisches Kapital nenne ich die anerkannte Geltung (Ruf, Prestige, Ehre), die auf anderen Kapitalarten aufsetzt und erst durch kollektive Anerkennung wirksam wird. Für das Projekt interessiert mich, wie Vereine, Fans, Spieler:innen und Ligen kulturelles und symbolisches Kapital aufbauen, konvertieren und politisch umkämpfen – und wo daraus Chancen oder Exklusionen entstehen.
Begriffe und Grundideen
- Kulturelles Kapital – drei Zustände (Bourdieu):
- Inkorporiert: Verkörperte Dispositionen und Fertigkeiten (z. B. Taktikverständnis, Gesangsroutinen, Groundhopping-Wissen).
- Objektiviert: Dinge/Artefakte (Schals, Trikots, Zaunfahnen, Fanzines, Sammlungen, Vereinsarchive).
- Institutionalisiert: Anerkannte Zertifikate/Titel (Trainer:innenlizenzen, Akademiezertifikate, Sterne über dem Wappen, Hall of Fame).
- Symbolisches Kapital: Konzentrat legitimer Anerkennung (Traditionsverein, Mythos, Derby-Rivalität, „Stadtteil‑Ikonen“, nationale/regionale Ehren). Es wirkt, weil es geglaubt wird – und ordnet Felder („große“ vs. „kleine“ Clubs).
- Kultur als Werkzeugkasten (Swidler 1986): Repertoires aus Symbolen und Strategien, die in Situationen aktiviert werden – z. B. Choreos, Lieder, Narrative („Wir gegen den modernen Fußball“).
Wie zeigt sich das im Fußball?
- Fans: Insidercodes (Chants, Choreos, Auswärtsrituale) signalisieren Zugehörigkeit; Subkulturelles Kapital (Thornton) markiert Distinktionen („authentisch“ vs. „plastisch“).
- Vereine: „Tradition“ und „Erfolg“ als symbolische Ressourcen (Gründungsjahr, Titel, Legenden); Museen, Jubiläen und soziale Projekte objektivieren/auffrischen Prestige.
- Spieler:innen/Staff: Lizenzstufen, Spielminuten auf höchstem Niveau, Nationalteam‑Caps und Awards als institutionalisiertes Kapital; Körpersprache/Performanz als inkorporierte Signale.
- Ligen/Verbände: Trophy‑Designs, Hymnen, Ranglisten und Sterne-Systeme produzieren symbolische Hierarchien, die sich auf Ticketing, Sponsoring und mediale Sichtbarkeit auswirken.
Konversionen zwischen Kapitalarten
- Kulturelles → ökonomisches Kapital: Marken‑ und Ticketwert durch „Mythos“, Auslastung durch ritualisierte Erlebnisqualität; Merchandising als Objektivierung.
- Ökonomisches → symbolisches Kapital: Teure Transfers, Stadionbauten, CSR‑Leuchttürme erzeugen Anerkennung – sofern sie als legitim gelten.
- Soziales → kulturelles/symbolisches Kapital: Netzwerke verschaffen Lerngelegenheiten (Taktik‑Literacy, Auswärtslogistik) und Bühne (Kurvenrollen, Vereinsgremien).
Ambivalenzen: Gatekeeping, Exklusion, Kämpfe um Anerkennung
- Insidercodes können Neulinge (Kinder, Frauen, migrantische/queere Fans) ausschließen; Wissenshierarchien („echte/r Fan“) regulieren Zugehörigkeit.
- Symbolisches Kapital ist umkämpft: Rebrandings, Investoren, Stadionnamenwechsel und „Touristen“-Debatten zeigen Konflikte um Legitimität.
- Frauenfußball: Sichtbarkeit und institutionelle Anerkennung wachsen, bleiben aber fragil; symbolische Aufwertungen (Turniererfolge) müssen in Ressourcen übersetzt werden.
Methodik im Projekt
- Ethnografie & Dokumentanalyse: Chants, Banner, Choreos, Vereinsarchive/Museen, Fanmedien; Kodierung von Symbolen und „Ritual‑Momenten“.
- Interviews & Netzwerke: Rollen (Capo, Kurven‑Orga, Museums‑Teams, CSR), Übergänge (vom Neuling zur Vertrauensperson), Gatekeeping‑Praktiken.
- Indikatoren: Zertifikatsdaten (Lizenzen), Titel‑/Trophäenverläufe, Vereinsjubiläen, Museums‑/Stiftungsaktivitäten, Fan‑Artefakt‑Dichte.
Forschungstagebuch
Ich achte in Feldnotizen auf „Anschlussmomente“ (wenn jemand durch Wissen/Ritual eine Tür öffnet), „Bruchmomente“ (wenn Prestige kippt – Skandal, sportlicher Abstieg, Rebranding) und „Konversionsmomente“ (wenn symbolische Aufwertung tatsächlich zu besseren Ressourcen führt). Besonders interessiert mich, wie Frauen‑/queere Netzwerke symbolische Anerkennung in stabile Strukturen überführen – und wo die Übersetzung stockt (Räume, Budgets, Sichtbarkeit).
Leitfragen
- Welche Insidercodes strukturieren Zugang – und wie lassen sie sich inklusiver gestalten, ohne Subkultur zu nivellieren?
- Wie konvertieren Vereine symbolisches in ökonomisches Kapital (und zurück) – mit welchen Nebenfolgen für Fankulturen?
- Wo entstehen Kämpfe um Legitimität („Tradition“ vs. „Modernisierung“), und wer setzt sich mit welchen Ressourcen durch?
- Welche Mechanismen machen Erfolge im Frauenfußball dauerhaft sichtbar und institutionell wirksam?
Literatur
- Bourdieu, P. (1986). The forms of capital. In J. G. Richardson (Hrsg.), Handbook of Theory and Research for the Sociology of Education (S. 241–258). Greenwood Press. https://www.bloomsbury.com/us/handbook-of-theory-and-research-for-the-sociology-of-education-9780313235290/
- Bourdieu, P. (1979). Die feinen Unterschiede. Suhrkamp. (Kein DOI/Verlagslink verfügbar; Originaltitel bevorzugt aufgeführt.)
- Swidler, A. (1986). Culture in action: Symbols and strategies. American Journal of Sociology, 51(2), 273–286. https://doi.org/10.1086/228313
- Thornton, S. (1995). Club cultures: Music, media and subcultural capital. Polity Press. (Kein DOI verfügbar)
- Weber, M. (1922/2002). Wirtschaft und Gesellschaft. 5., revidierte Auflage. Mohr Siebeck. https://www.mohrsiebeck.com/buch/wirtschaft-und-gesellschaft-9783161477492/

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