Ich verstehe soziales Kapital als Summe der Ressourcen, die in und durch Beziehungen mobilisierbar sind – Vertrauen, Verpflichtungen, Informationen, Anerkennung und institutionelle Zugänge (Bourdieu 1986; Coleman 1988; Lin 2001). Für unser Projekt interessiert mich, wie Fans, Spieler:innen, Trainer:innen, Vereinsakteur:innen und Nachbarschaften diese Ressourcen im Fußballfeld aufbauen, pflegen, einsetzen – und wo ihre Ambivalenzen (Exklusion, Gatekeeping, Normdruck) sichtbar werden.
Begriffe und Grundideen
- Bourdieu: Soziales Kapital als Zugriff auf Ressourcen über dauerhafte Netzwerke – konvertierbar in ökonomisches, kulturelles und symbolisches Kapital (Bourdieu 1986).
- Coleman: Verpflichtungen/Erwartungen, Informationskanäle und Normen als produktive Güter sozialer Strukturen (Coleman 1988).
- Putnam: Bonding (bindend, homogen) vs. Bridging (brückenbildend, heterogen) – plus Linking (Anschluss an formelle Institutionen) (Putnam 2000).
- Lin/Portes: Ressourcentransfer via Netzwerkposition; Ambivalenzen (Ausschluss, Überkontrolle, Klientelismus) (Lin 2001; Portes 1998).
- Granovetter/Burt: Schwache Bindungen und strukturelle Löcher als Quellen neuer Information und Machtpositionen (Granovetter 1973; Burt 1992).
Wie soziales Kapital im Fußball entsteht
- Mikro: Gegenseitigkeit und Vertrauen in Peergroups (Fahrgemeinschaften, Ultras, Elternkreise, Spieler:innenkabinen). Rituale (Chants, Banner, Auswärtsfahrten) stabilisieren Zugehörigkeit.
- Meso: Vereins- und Fanstrukturen (Abteilungen, Fanprojekte, Supporters’ Trusts) bündeln Engagement, Wissen und Reputation – sie übersetzen Beziehungen in Entscheidungen und Ressourcen.
- Makro: Kommunale Netzwerke (Schulen, Jugendhilfe, lokale Betriebe) sowie Liga-/Verbandskontakte (Förderprogramme, Sicherheitsgremien) eröffnen Zugänge zu Räumen, Mitteln und Sichtbarkeit.
Funktion und Wirkung im Projektkontext
- Informationsvorsprünge: Wer „an der Quelle“ sitzt (Scouts, Capos, Quartiersmanager:innen), verteilt Aufmerksamkeit und Chancen (Tryouts, Jobs, Fördermittel).
- Koordination & Resilienz: Dichte Netzwerke ermöglichen schnelle Mobilisierung (Choreos, Hilfsaktionen) und Krisenhilfe (Verletzungen, Trauerfälle, Stadionkonflikte).
- Konversion: Soziales Kapital lässt sich in ökonomische (Sponsoring, Jobs), kulturelle (Kompetenzzugänge) und symbolische Vorteile (Status, Legitimität) überführen.
Ambivalenzen und Risiken
- Exklusion: Enge Netzwerke schützen – und schließen aus (Gender, Klasse, Migration, Queerness). „Wir“/„Die“-Grenzen können Ressourcenzugänge blockieren (Portes 1998).
- Normdruck & Sanktionen: Konformitätszwang in Kurven/Teams kann kreative Minderheiten, Frauen und queere Fans marginalisieren.
- Klientelismus & Abhängigkeit: Schlüsselpersonen (Gatekeeper) kontrollieren Chancen (Tickets, Nachwuchsplätze, Jobs) – mit Risiken der Abhängigkeit und Intransparenz.
- Gewalt & Boundary Policing: In Subkulturen kann Sozialkapital über Loyalitätsnormen in Abgrenzungsrituale kippen.
Anwendung auf Fallstudien
- Fans & Community: Supporters’ Trusts als „bridging/linking“ – sie übersetzen Fanwissen in Vereinsentscheidungen; Frauennetzwerke machen Sicherheit, Care und Zugang sichtbar.
- Nachwuchs & Amateurfußball: Egonetzwerke (Trainer:in–Spieler:in–Eltern) entscheiden über Förderpfade; schwache Bindungen (z. B. ehemalige Mitspieler:innen) öffnen Türen.
- Profifußball: Agent:innen- und Spielergewerkschaftsnetzwerke vermitteln Verträge und Übergänge; Spieler:innengruppen stützen mentale Gesundheit.
Methodik im Projekt
- Netzwerkanalyse (egozentriert/affiliativ): Ich erhebe Kontaktlisten nach Funktionsrollen (Hilfe, Info, Jobs, Schutz), erfasse Dichte, Diversität, Zentralität und Brückenrollen.
- Mixed Methods: Leitfadeninterviews, teilnehmende Beobachtung (Fanprojekte, Training, Gremiensitzungen), Dokumentenanalyse (Satzungen, Protokolle, Förderbescheide).
- Indikatoren: Teilnahmequoten, Häufigkeit gegenseitiger Hilfe, Übergangsraten (z. B. U19→U23), Zahl der Brückenbeziehungen (außerhalb des eigenen Milieus).
- Ethik: Schutz sensibler Beziehungsdaten; Anonymisierung von Netzwerkgrafiken; Rückspiegelung der Ergebnisse an Gruppen.
Forschungstagebuch
Ich achte in Feldnotizen auf „Brückenmomente“ (erste Einladung in eine neue Gruppe, Kontakt zu Behörden/Medien), „Verschlussmomente“ (wenn Gatekeeping sichtbar wird) und „Konversionsmomente“ (wenn aus Beziehungen konkrete Chancen/Unterstützung werden). Besonders interessiert mich, wie Frauennetzwerke, queere Gruppen und migrantische Fans soziales Kapital gegen Exklusionsrisiken aktivieren – und wo genau es hakt (Räume, Zeiten, Sprache, Ressourcen).
Leitfragen
- Wo entsteht im Verein/Quartier „bonding“ – und wo fehlt „bridging“?
- Welche Gatekeeper steuern Ressourcenzugänge – und wie lassen sich Brückenrollen stärken?
- Wie wird soziales Kapital in ökonomisches/kulturelles/symbolisches Kapital konvertiert – und wer profitiert?
- Welche Strukturen unterstützen Frauen, queere Fans und migrantische Communities – welche behindern sie?
- Wie wirken Supporters’ Trusts, Fanprojekte und kommunale Partnerschaften messbar auf Teilhabe und Sicherheit?
Literatur
- Bourdieu, P. (1986). The forms of capital. In J. G. Richardson (Hrsg.), Handbook of Theory and Research for the Sociology of Education (S. 241–258). Greenwood Press. https://www.bloomsbury.com/us/handbook-of-theory-and-research-for-the-sociology-of-education-9780313235290/
- Burt, R. S. (1992). Structural holes: The social structure of competition. University of Chicago Press. https://doi.org/10.7208/chicago/9780226922465.001.0001
- Coleman, J. S. (1988). Social capital in the creation of human capital. American Journal of Sociology, 94(Supplement), S95–S120. https://doi.org/10.1086/228943
- Granovetter, M. (1973). The strength of weak ties. American Journal of Sociology, 78(6), 1360–1380. https://doi.org/10.1086/225469
- Lin, N. (2001). Social capital: A theory of social structure and action. Cambridge University Press. https://doi.org/10.1017/CBO9780511815447
- Portes, A. (1998). Social capital: Its origins and applications in modern sociology. Annual Review of Sociology, 24, 1–24. https://doi.org/10.1146/annurev.soc.24.1.1
- Putnam, R. D. (2000). Bowling alone: The collapse and revival of American community. Simon & Schuster. https://www.simonandschuster.com/books/Bowling-Alone/Robert-D-Putnam/9780743203043

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