3.2.6 Momente der Ausbeutung im modernen Fußball

Ich nehme Ausbeutung als relationale Aneignung von Überschüssen ernst – also als Rentenabschöpfung aus asymmetrischen Macht‑, Wissens‑ und Ressourcenlagen. Im Fußball sehe ich solche Asymmetrien entlang der ganzen Kette: Fans (Aufmerksamkeit, Daten, Zahlungsbereitschaft), Ehrenamt/Amateure (Zeit, Organisation, Care‑Arbeit), Talente/Profis (Gesundheit, Karrierefenster) und Intermediäre/Institutionen (Lizenzen, Marken, Plattformzugänge). Mein Ziel ist, diese Dynamiken in unseren Fallstudien sichtbar zu machen und mit regulativen wie kulturellen Gegenmodellen zu kontrastieren.

Begriffe und theoretische Anker

  • Kapitalrenten und Ausbeutung: In Anlehnung an Sørensen verstehe ich Ausbeutung als Ertrag aus Kontrolle knapper Güter (Jobs, Lizenzen, Kapital, Plattformen), der über faire Marktentgelte hinausgeht – während Risiken (Einkommensunsicherheit, Gesundheit, Zeit) auf andere verlagert werden (Sørensen 2000).
  • Organisation und Transaktionskosten: Organisationen können durch Regeln, Exklusivrechte und Informationsvorsprünge Überschüsse internalisieren (Williamson 1981).
  • Verkörperte Arbeit: Leistung ist nicht nur Vertrag, sondern Körperarbeit, Habitus, Lernzeit, soziale Unterstützung (Wacquant 2004). Genau hier entstehen stille Kosten und Verletzbarkeiten.
  • Anschluss an mein früheres Papier (2002): In „Skilled Out?“ habe ich total wealth, Kapitalrenten und Ausbeutung systematisch aufeinander bezogen und mit Coleman/Bourdieu verschränkt. Für das Projekt aktualisiere ich diese Perspektive auf heutige Liga‑, Medien‑ und Plattformökonomien.

Fans: Monetarisierte Hingabe und Aufmerksamkeit

  • Preis- und Zugangsstrategien: Dynamische Preise, Hospitality‑Pakete, Mitgliedschaften und Sekundärmärkte steigern Erlöse – für viele Fans bedeutet das Mehrfachzahlungen für dieselbe Zugehörigkeit (Ticket + Abo + Merch).
  • Daten- und Plattformökonomie: Klicks, Posts, Aufenthaltsdaten werden zu verwertbaren Assets. Fans leisten unbezahlte „Prosumer“-Arbeit, deren Erträge bei Vereinen und Plattformen landen.
  • Glücksspiel/Gamblification: Wettpartnerschaften externalisieren Sucht‑ und Überschuldungsrisiken in die Community, während Clubs/Ligen profitieren.

Ehrenamt und Amateurbereich: die stille Wertschöpfung

  • Unbezahlte Infrastruktur: Spielbetrieb, Nachwuchs, Events – vieles trägt ehrenamtliche Arbeit. Nutzen wird vermarktet, Partizipation an Erlösen bleibt oft aus.
  • Qualifikation und Übergänge: Trainer:innen/Betreuer:innen investieren Zeit und Bildung; Weiterbildungen, Reisespesen und Versicherungsschutz sind nicht immer gesichert.

Talente und Profis: kurze Erwerbsfenster, hohe Risiken

  • Karriereglocke: Top‑Einkommen sind hoch, aber zeitlich eng begrenzt. Nach Karriereende drohen Einkommens‑ und Identitätsbrüche, wenn Qualifikationen und Rücklagen fehlen.
  • Selektionspfade: Akademien und Unterligen arbeiten mit kurzen Verträgen und hohem Verletzungsrisiko; Reproduktionskosten (Reha, Ausbildung) werden oft individualisiert.
  • Rechte und Bindungen: Vertragslaufzeiten, Ausbildungsentschädigungen, exklusive Daten- und Bildrechte verschieben Verhandlungsmacht zu Clubs/Ligen/Intermediären.

Frauen und Unterligen: Doppelbelastungen und Dual Careers

  • Parallelkarrieren als Normalfall: Studium/Erwerbsarbeit sichern Existenz, erhöhen aber Belastung und Verletzungsrisiken.
  • Unsichtbare Care‑Arbeit: Familien‑/Betreuungsarbeit trifft Frauen überproportional; fehlende Standards (Mutterschutz, Elternzeit, medizinische Absicherung) erzeugen strukturelle Benachteiligungen.
  • Sichtbarkeit/Scouting: Weniger Medienpräsenz reduziert Sponsoring‑ und Transferchancen – eine eigene Schleife der Unterfinanzierung.

Regulative und institutionelle Antworten

  • Arbeits‑ und Vertragsstandards: Mindestlaufzeiten, Versicherung, medizinische Betreuung, Übergangsqualifizierung; Mitbestimmung und Beschwerdemechanismen.
  • Kosten‑/Einnahmeregeln: Lizenzierung, Kostenregeln und Revenue‑Sharing entscheiden darüber, ob Überschüsse in Infrastruktur, Talentpflege und Community zurückfließen.
  • Dual‑Career‑Programme: Kooperationen mit Schulen/Hochschulen/Arbeitgebern; flexible Stundenmodelle, ECTS‑/Modul‑Anrechnung, Reha‑/Präventionspfade.

Methodik für das Projekt (Mikro–Meso–Makro)

Makro: Ticket- und Abo‑Strukturen (Listenpreis vs. gezahlter Preis), Sekundärmarktspreads, Sponsoring‑/Wettanteile, Vertragslaufzeiten, Verletzungs- und Karriereenddaten.
Meso: Club‑ und Ligaordnungen (AGB, Weiterverkaufsrichtlinien, Datenrechte), Akademiestandards, Supporter‑Trusts.
Mikro: Interviews/Diary Studies zu Doppelbelastungen, Verzichtsmomenten im Fan‑Budget, Übergängen (U17→U19→U23/Erwachsene), Care‑ und Gesundheitsarbeit.

Forschungstagebuch

Ich schaue gezielt auf „Preis‑Momente“ (Ticket/Streaming‑Entscheidungen), „Zeit‑Momente“ (Trainings‑/Arbeitspläne), „Rechts‑Momente“ (Verträge, Bild‑/Datenrechte) und „Übergangs‑Momente“ (Verletzung, Schwangerschaft, Karriereende).

Meine Hypothese: Ausbeutung materialisiert sich oft in unscheinbaren Alltagspraktiken – nicht nur in spektakulären Skandalen.

Leitfragen

  1. Wo entstehen im Klub‑/Ligaalltag systematische Renten – und wer kann sie abschöpfen?
  2. Welche Preis‑, Daten‑ und Vertragspraktiken verlagern Risiken einseitig auf Fans, Ehrenamtliche oder Athlet:innen?
  3. Wie verändern Dual‑Career‑Programme, Mindeststandards und Mitbestimmung die Verteilung von Renditen und Risiken?
  4. Welche besonderen Belastungen betreffen Frauen und Spieler:innen in Unterligen – und welche Gegenmodelle funktionieren empirisch?

Literatur

  • Becker, G. S. (1962). Investment in human capital: A theoretical analysis. Journal of Political Economy, 70(5), 9–49. https://doi.org/10.1086/258724
  • Coleman, J. S. (1988). Social capital in the creation of human capital. American Journal of Sociology, 94(Supplement), S95–S120. https://doi.org/10.1086/228943
  • Courty, P. (2003). Some economics of ticket resale. Journal of Economic Perspectives, 17(2), 85–97. https://doi.org/10.1257/089533003765888449
  • Giulianotti, R. (2002). Supporters, followers, fans, and flâneurs: A taxonomy of spectator identities in football. Journal of Sport & Social Issues, 26(1), 25–46. https://doi.org/10.1177/0193723502261003
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  • Roderick, M. (2006). The work of professional football: A labour of love? Routledge. https://doi.org/10.4324/9780203014950
  • Rosen, S., & Sanderson, A. (2001). Labour markets in professional sports. The Economic Journal, 111(469), F47–F68. https://doi.org/10.1111/1468-0297.00598
  • Sørensen, A. B. (2000). Toward a sounder basis for class analysis. American Journal of Sociology, 105(6), 1523–1558. https://doi.org/10.1086/210463
  • Stambulova, N., & Wylleman, P. (2015). Dual career development and transitions. Psychology of Sport and Exercise, 21, 1–3. https://doi.org/10.1016/j.psychsport.2015.05.003
  • Williamson, O. E. (1981). The economics of organization: The transaction cost approach. American Journal of Sociology, 87(3), 548–577. https://doi.org/10.1086/227496
  • Pflaum, S. (2002). Skilled Out? Über die Bedeutung von ökonomischem Kapital, Humankapital und Sozialkapital. Unveröffentlichte wissenschaftliche Arbeit, LMU München.

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