3.3.3 Migrantische Gegenöffentlichkeiten & Diaspora

Migrantische Fankulturen sind transnationale Gegenöffentlichkeiten: Sie schaffen Räume, in denen Zugehörigkeiten (immer wieder) neu verhandelt und Übersetzungsleistungen zwischen Herkunft (x.ter Generation), Wohnort und Verein produziert werden. Zwischen Sichtbarkeit (bilinguale Chants, Fahnen, Public Viewings in Community‑Räumen) und Gefährdung/Unsichtbarkeit (racial profiling, Ticketzugänge, Sprachbarrieren) entstehen eigenständige Öffentlichkeiten, die in Vereine und Verbände einspeisen – oder an ihnen abprallen (Fraser 1990; Warner 2002).

Habermas’ normative Leitidee der Öffentlichkeit (Zugang, Begründung, Respekt): Wo offizielle Arenen diese Bedingungen nicht gewährleisten, entstehen Gegenöffentlichkeiten – Pub‑Kollektive, Vereinsableger, digitale Kanäle –, die (auch migrantische) Themen setzen, Erfahrungen sammeln und an die Hauptöffentlichkeit übersetzen (Calhoun 1992; Fraser 1990). Aus der Diaspora‑Forschung lerne ich, transnationale Netzwerke als affektive Infrastrukturen zu lesen: Sie verdichten je nach Herkunft (in vielen Sinnen des Wortes) Mobilität, Medien und Erinnerung (Appadurai 1996; Brubaker 2005; Cohen 2008).

Migrantische Gegenöffentlichkeiten

  • Orte: Community‑Zentren, Fanbars, migrantische Vereinskneipen, Moscheehöfe/Kulturvereine vor dem Spiel, Auswärtsfahrten aus der Diaspora.
  • Medien/Praktiken: Bilinguale Chants, Übersetzungs‑Accounts, diasporische Fanzines/Podcasts, Fahnen‑„Assemblages“ (Herkunft/Club/Stadtteil).
  • Akteur:innen: Fanclubs in der Diaspora, Brückenpersonen (Sprachmittler:innen), lokale NGOs/Fanprojekte als Schleusen.

Inklusion durch Übersetzung – Exklusion durch Regime

  • Zugang: Ticket‑ und Ausweisregime, Kontingente für Gästefans ohne lokalen Wohnsitz, Registrierungshürden.
  • Sicherheit/Policing: Racial profiling, Kollektivstrafen, Visaregeln – erhöhen die Kosten transnationaler Teilhabe.
  • Ökonomie: Reise‑/Aufenthaltskosten, Überweisungsgebühren (Merch/Tickets), Remittances in Fanprojekte.
  • Kulturelle Passform: Erwartungen an „richtige“ Fankultur (Gesangsstile, Alkoholnormen, Geschlechterrollen) erzeugen Mikro‑Gatekeeping.

Mechanismen

  1. Übersetzungsdreieck (Sprache – Ritual – Regel): Je dichter die Übersetzungsinfrastruktur (Bilingua‑Capos, Untertitel, Moderation), desto höher die Andockchancen an Vereinsöffentlichkeiten.
  2. Schwelleneffekt: Ab einer gewissen Diaspora‑Dichte werden eigene Gegenöffentlichkeiten stabil (eigene Medien, eigene Spieltagsrituale) und gleichzeitig anschlussfähiger.
  3. Ambivalente Sichtbarkeit: Sichtbarkeit erzeugt Schutz (Zeug: Kameras, Allies) und Risiko (Zielscheibe, Tokenism).

Operative Toolbox für die Feldarbeit

Indikatoren

  • Zugangsindikatoren: Ticketverteilung nach PLZ/Passstatus, Visa‑Ablehnungen, Kontingentpolitik.
  • Übersetzungsindikatoren: Anteil bilingualer Durchsagen/Posts, Zahl offizieller Diaspora‑Fanclubs, Community‑Partnerschaften.
  • Sichtbarkeitsindikatoren: Banner‑/Flaggenvielfalt, Anteil mehrsprachiger Chants, Präsenz in Vereinsmedien.
  • Policing‑indikatoren: ID‑Kontrollen, Präventivverfügungen, Kollektivstrafen (nach Gruppenmerkmalen erfasst).

Datenquellen

  • Fanrats‑Protokolle, Vereinsstatuten, Stadionordnungen.
  • Feldnotizen/Mapping von Community‑Räumen.
  • Social‑Media‑APIs (Sprachen‑/Netzwerkanalyse), Fanzines/Podcasts.

Forschungstagebuch

Ich notiere, wie ich vor einem Spiel zwischen Sprachen pendle: kurze Gespräche im Kiosk, Telegram‑Gruppen in der Diaspora, ein Capo, der auf zwei Sprachen anzählt. Ich bin mir meiner sprachlichen Grenzen bewusst und übe mich in langsamerem Zuhören – an den Übersetzungsstellen (Türsteher:innen, Ordner:innen, Fanprojekt‑Mitarbeitende) entscheide ich mich, zunächst zu beobachten statt zu interpretieren. In den Memos halte ich Ambivalenzen fest: Ein Pride‑Banner einer migrantischen Gruppe erzeugt Schutz durch Sichtbarkeit und gleichzeitig neue Angriffsflächen – ein klassischer Fall ambivalenter Gegenöffentlichkeit (Fraser 1990; Warner 2002).

Leitfragen

  • Wo bilden Diaspora‑Fans eigene Arenen – und wo gelingt die Kopplung an Vereins‑/Verbandsöffentlichkeit?
  • Welche Übersetzungsressourcen (Personen, Medien, Rituale) erhöhen Zugehörigkeit – welche fehlen?
  • Wie balancieren Vereine Sichtbarkeit und Schutz ohne Tokenism?
  • Welche Policy‑Hebel (Kontingente, Community‑Tickets, mehrsprachige Kommunikation, Anti‑Profiling‑Standards) verbessern Teilhabe?

Literatur


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