3.3.1 Konzept der Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit

Ich fasse das Konzept der (Gegen‑)Öffentlichkeit so, dass es im Fußballfeld analytisch scharf und empirisch anschlussfähig wird: von der normativen Leitidee deliberativer Öffentlichkeit bis zur pluralen Topologie vieler Teil‑ und Gegenöffentlichkeiten, in denen marginalisierte Gruppen ihre eigenen Agenden ausbilden (Habermas 1990 [1962]; Fraser 1990).

Hinführung

In der Tradition von Habermas (1990 [1962]) verstehe ich Öffentlichkeit als einen prinzipiell zugänglichen Raum vernünftiger Auseinandersetzung über Angelegenheiten allgemeinen Interesses. Diese Definition dient als regulative Idee: Sie setzt Maßstäbe (Zugang, Respekt, Begründungspflichten), ohne vorwegzunehmen, dass reale Arenen diese Bedingungen schon erfüllen. Kritiken – insbesondere Fraser (1990) – zeigen, dass es nie die eine Öffentlichkeit gibt, sondern multiple Öffentlichkeiten und Gegenöffentlichkeiten. Gerade dort, wo dominante Arenen Stimmen an den Rand drängen, entstehen alternative Formate, Medien und Praktiken, die andere Themen, Affekte und Rationalitäten nach vorn bringen (Negt & Kluge 1972/1986; Warner 2002).

Normative Leitidee: Deliberative Öffentlichkeit

  • Kern: allgemeiner Zugang, Diskurs, Rechtfertigungspflichten, Orientierung am Gemeinwohl (Habermas 1990 [1962]; Habermas 2022).
  • Heuristik fürs Feld: Pressekonferenzen, Mitgliederversammlungen, städtische Sportausschüsse, DFL‑/DFB‑Gremien – Arenen, in denen formale Diskurse stattfinden und in die Gegenöffentlichkeiten ggf. einspeisen.

Kritik und Pluralisierung: Gegenöffentlichkeiten

  • Fraser: Gegenöffentlichkeiten sind notwendig, damit subalterne Gruppen Themen setzen, Erfahrungen artikulieren und Übersetzungsarbeit für den breiten Diskurs leisten (Fraser 1990).
  • Negt & Kluge: Erfahrungsöffentlichkeit der Arbeitenden/Unterdrückten – in unserem Feld: Kurven, Fanzines, Ultras als Erfahrungsräume (Negt & Kluge 1972/1986).
  • Warner: Öffentlichkeiten als adressierte Kollektive (durch Texte, Posts, Chants konstituiert); es gibt überlappende, flüchtige und hartnäckige Publika (Warner 2002).

Operative Kriterien für die Feldanalyse

Ich arbeite mit einer Topologie der Arenen und drei Prüffragen:

  1. Zugangsregime: Wer kommt rein, wer nicht (Preis, Sprache, Sichtbarkeit, Zeit)?
  2. Medien‑ und Praktikenmix: Wie werden Themen/Emotionen zirkuliert (Choreos, Spruchbänder, Podcasts, Vereinsmedien, Social Media)?
  3. Kopplungen/Übersetzungen: Wo sind Schleusen zwischen Gegen‑ und Hauptöffentlichkeit (Fanräte, Awareness‑Teams, städtische Runde Tische)?

Stolpersteine und Ambivalenzen

  • Kooptation: Gegenöffentlichkeiten können in Vermarktungslogiken aufgehen (Pride‑Kits, Diversity‑Kampagnen).
  • Gatekeeping: Auch Gegenöffentlichkeiten haben Ausschlüsse (z. B. Maskulinitätsnormen in Kurven).
  • Affektökonomie: Emotionen sind nicht „irrational“, sondern folgen einer anderen Rationalität (Körperlichkeit, Kollektivrituale) und können deliberative Prozesse antreiben oder blockieren.

Forschungstagebuch

Ich halte fest, wie ich im Stadion zwischen auditiver (Sprechchöre), visueller (Choreos) und organisationaler Öffentlichkeit (Fanprojekte, Vereinsgremien) wechsle. In Memos kartiere ich Orte der Übersetzung: Wer nimmt Anliegen aus der Kurve auf, wer bringt sie in Vorstand/Gremium, und was geht dabei verloren? Früh zeigt sich: Erfolge entstehen, wenn Gegenöffentlichkeiten über dauerhafte Infrastrukturen (Vereinsdialoge, Kurvenbünde, Netzwerke wie QFF) verfügen – und wenn diese Infrastrukturen anschlussfähig an formale Arenen sind.

Leitfragen

  • Welche spezifischen Teil‑Öffentlichkeiten eines Clubs lassen sich unterscheiden – und wie „reden“ sie miteinander?
  • Wo sind Schleusen der Übersetzung (Personen, Gremien, Formate)?
  • Welche Ressourcen (Zeit, Geld, Räume, Medienkompetenz) stabilisieren Gegenöffentlichkeiten?
  • Wann kippt Sichtbarkeit in Tokenism oder Kommerz – und wie mache ich das empirisch sichtbar (Daten, Beispiele, Policies)?

Literatur


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