3.3.3 Inklusion und Exklusion: regionales und transnationales Erleben von „Diaspora“

Teaser

Fußball ist bewegte Öffentlichkeit: Spieler-, Fan- und Mediensphären verbinden Region und Transnationalität. Diasporische Fans – etwa migrantische Communities oder Exil-Fans – stellen Zugehörigkeit räumlich (Heimatstadion vs. Public Viewing) und medial (Livestream, Community-Kanäle) her. Mich interessiert, wie „wir“ vs. „sie“ markiert wird, wie Vereine diese Zugehörigkeiten vermarkten und wie Affektketten (Stolz, Scham, Wut, Fürsorge) Bindung stabilisieren oder Brüche sichtbar machen (Cohen 2018; Gilroy 1993).

Hinführung

Diaspora ist für mich weniger Herkunftsetikett als Praxis: eine wiederkehrende Arbeit an Nähe und Distanz, an Erinnerung, Sprache und Ritualen – oft in Kontaktzonen (Stadtteil, Kneipe, Fanmarsch, Online-Thread). So entstehen mehrfache Öffentlichkeiten: lokale Kieze, transnationale Netzwerke, plattformvermittelte Gemeinschaften. Vereine adressieren diese Öffentlichkeiten (Merch, International Accounts, „Global Clubs“) – manchmal emanzipativ, manchmal exotisierend.

Drei Formen diasporischer Zugehörigkeit

1) Lokale Diaspora – „Heimat fern der Heimat“.
Stadtteile werden zu Knotenpunkten: Flaggen in Kneipen, Rituale vor/ nach dem Spiel, zweisprachige Gesänge. Zugehörigkeit materialisiert sich im Weg zum Stadion (oder zum Public Viewing), in wiederkehrenden Körperpraktiken (Umarmen, Sprechchöre) und Care-Routinen (Kinder dabeihaben, Rücksicht im Gedränge). Inklusion gelingt, wenn Zugänge stimmen (Preise, Barrierefreiheit, Sprache).

2) Mediale Diaspora – „always on“.
Livestreams, Radios, Fan-TV, Social-Feeds verbinden verstreute Gruppen. Hashtags, Emojis und Memes erzeugen Verdichtungen von Affekt („wir sind viele – jetzt“). Exklusion entsteht, wenn Plattformlogik Stimmen unsichtbar macht (Algorithmik, Sprachbarrieren) oder wenn Gatekeeping in Kommentaren diasporische Fans abwertet.

3) Event-Diaspora – „Turnierzeiten, Ausnahmezeiten“.
EM/WM oder internationale Auswärtsspiele schaffen temporäre Verdichtungen: Pop-up-Public-Viewings, Parade-Routen, transnationale Familienrituale. Hier konkurrieren Inklusionsversprechen (Gemeinschaftserlebnis) mit Exklusionsrisiken (Sicherheitszonen, Ticketpreise, „Wir-gegen-sie“-Frames).

Affektökonomie der Diaspora

  • Stolz: Sichtbarkeit der Herkunft (Fahnen, Farben, Lieder) stiftet Würde – kippt aber in Othering, wenn sie als „nicht passend“ markiert wird.
  • Scham: Fehltritte, Stereotype oder Medienbilder können kollektive Schamwellen auslösen – Re-Framing durch Gegenöffentlichkeiten wirkt als Schutz.
  • Wut: Ungerechte Behandlung (Kontrollen, Chanting-Policing) mobilisiert – kann integrieren oder eskalieren.
  • Fürsorge: Care-Praktiken (Übersetzen, Begleiten, Schlichten) halten Räume durchlässig und sind oft unsichtbare Inklusionsmotoren.

Verein, Markt, Marke

Clubs adressieren diasporische Fandoms mit International Accounts, Tourneen, Sondertrikots, Sprachpaketen. Das kann Teilhabe ermöglichen (Zugriffe, Anerkennung, lokale Projekte) – oder exotisieren, wenn „Anderssein“ als Stilzitat vermarktet wird. Ich prüfe:

  • Erweitern Maßnahmen Zugänge (Preise, Sprache, Rechte im Stadion)?
  • Werden diasporische Stimmen in Policies/FAQ sichtbar?
  • Gibt es Feedback-Schleifen (Korrekturen, Community Boards)?

Mini-Vignetten (aus meinem Material)

  • Public Viewing / Derby: Ein zweisprachiges Moderations-Team nimmt Zitate aus der Community auf; die Stimmung bleibt inklusiv, weil Übersetzung nicht nur technisch, sondern sozial gedacht ist.
  • Social-Thread / Ticketpolitik: Diasporische Fans kritisieren Peak-Pricing für „Heimkehr-Spiele“. Erst nach Transparenz (Preislogik, Kontingent-Regeln) kippt der Thread von Wut zu Pragmatismus.
  • Stadion / Choreo: Eine Flaggen-Choreo mit diasporischen Symbolen wird als „Politik“ abgewertet; ein moderierter Dialog mit Sicherheits- und Fanvertretungen etabliert klare Leitplanken statt pauschaler Verbote.

Methodenfenster

Ich arbeite Grounded-Theory-basiert mit theoretical sampling über drei Felder:

  1. Ort (Stadionwege, Public Viewing, Kieze),
  2. Medium (Vereinskommunikation, Fan-TV, Social-Threads, Fanzines),
  3. Zeit (Alltag vs. Turnier/Derby).
    Kodierung: offen → axial → selektiv. Memos zu „Affektketten“, „Übersetzungspraxis“, „Exotisierungsbruch“, „Pricing-Gate“. Negativfälle (gelingende Inklusion) werden systematisch gesammelt.

Leitfragen

  • Welche Übersetzungspraktiken (sprachlich, sozial, räumlich) machen diasporische Räume inklusiv?
  • Wo markieren Vereine/Medien „wir“ vs. „sie“ – und wie lässt sich das umcodieren?
  • Wie wirken Preis- und Zugangsregime (Tickets, Sichtlinien, Moderation) auf diasporische Bindung?
  • Welche Affektketten stabilisieren Zugehörigkeit – und wann zeigen sie Brüche?
  • Wie lassen sich Gegenöffentlichkeiten (Blogs, Zines, Community-Kanäle) produktiv in Vereinskommunikation rückkoppeln?

Literatur


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