5.3.1 FC Nürnberg – Lokalpatriotismus, regionale Identität & Affektökonomie

Teaser

Lokalpatriotismus: In Nürnberg verschränken sich Stadtgeschichte, fränkische Alltagskultur und Club-Vereinskosmos zu einer Affektökonomie, die Zugehörigkeit stiftet – und gelegentlich überhitzt. Mich interessiert, wie Stolz, Leidensfähigkeit und Selbstironie kollektiv organisiert werden und wo Ambivalenzen zwischen Tradition und Kommerz liegen (Rosa 2016; Bourdieu 1992).

Hinführung

Die regionale fränkische Identität in Abgrenzung von Bayern wirkt wie ein Verstärker – sie macht Siege des Club bedeutsamer und Niederlagen bitterer. Gleichzeitig ordnet sie Verhalten: von Dialekt in Gesängen über Rituale auf dem Weg zum Stadion bis zu Gesprächscodes in Kneipen. Mit Grounded Theory nähere ich mich iterativ: Ich werde Spieltage vergleichen, Forenbeiträge, Fanzines, Interviews und Presseschau, um zu verstehen, wie Affekte produziert, kanalisiert und legitimiert werden (Charmaz 2014). Meine eigene „Club-Sozialisation“ ist Datenpunkt und Bias zugleich – ich halte Irritationen und Gegenbelege im Audit-Trail fest.

Affektökonomie des Lokalpatriotismus

  • Stolz & Geschichte: Traditionsverweise und Erinnerungsnarrative wirken als symbolisches Kapital; sie rechtfertigen Geduld und binden über Durststrecken (Bourdieu 1992).
  • Leidensfähigkeit & Hoffnung: Das zyklische Muster „Leiden–Hoffen–Neuanfang“ stabilisiert Zugehörigkeit; Selbstironie puffert Enttäuschungen und ermöglicht Kollektivreparaturen (Simmel 1907/1992; Rosa 2016).
  • Grenzziehungen: „Wir Fränkinnen/Franken“ funktioniert einschließend, aber auch ausschließend – etwa gegenüber „Erfolgsfans“ oder externen Deutungen. Hier suche ich Negativfälle, in denen Inklusion tatsächlich gelingt (Fraser 1990).

Mikro–Meso–Makro: Wie Identität praktisch wird

  • Mikro (Praxis & Körper): Dialekt, Gesänge, Gesten, „Aberglaube“ (Glücksrituale) – als Habitusformen gelernt und verkörpert (Bourdieu 1992).
  • Meso (Verein & Stadion): Ticketpolitik, Fanbetreuung, Erinnerungskultur, Kooperationen mit lokalen Initiativen – hier zeigt sich, wie Vereinskultur Affekte strukturiert.
  • Makro (Liga & Markt): Medienlogiken, Sicherheitsregime, Transferökonomie – sie definieren den Rahmen, in dem Lokalpatriotismus performt werden kann (Giddens 1984).

Zweckrationalisierte Affekte

Ich teste die These, dass scheinbar „irrationale“ Fanleidenschaft zweckrational eingesetzt wird: für Mobilisierung (Auswärtsfahrten), Ressourcen (Sponsoring „aus der Region“) und Deutungshoheit („echte Tradition“) – ein Fall von Affekt als Mittel im Sinne rationaler Wahlhandlungen (Coleman 1990; Esser 1999). Wo liegen die Grenzen? Wenn Kalkül spürbar wird, kippt Emotion in Zynismus – Bindung erodiert.

Geschlecht & Zugehörigkeit

Lokalpatriotismus kann hegemoniale Männlichkeitscodes reproduzieren (Durchhalteparolen, Härte), aber auch irritieren: Weibliche, queere und familienorientierte Fanräume gewinnen langsam an Sichtbarkeit. Ich prüfe, wann Humor und Selbstironie Anschluss herstellen – und wann Gatekeeping bleibt (Connell & Messerschmidt 2005).

Ambivalenzen

  • Traditionslabel vs. Kommerz: Wenn „regional“ zur Marketingfolie wird, verlieren Rituale an Resonanz.
  • Inklusion vs. Abgrenzung: „Fränkisch sein“ kann empowern – und ausschließen.
  • Romantik vs. Risiko: Sicherheitslogiken verändern die Wege, auf denen Affekte gelebt werden.

Methodenfenster: Material & Kodierung

  • Material: Spielanalysen (Heim/Auswärts), Presseschau (lokal/regional), leitfadengestützte Interviews (Altersmix, m/w/d; Kurve/Familienblock/Vereinsumfeld), Fanzines, Social-Media-Posts.
  • Sampling: maximal kontrastierend (Erfolg/Frust, Heim/Auswärts, Kurven-/Sitzplätze); theoretisches Sampling nach jeder Kodierwelle.
  • Kodierung: offen → axial → selektiv; Memos zu „Leidenshumor“, „Erinnerungskapital“, „Regionaler Habitus“, „Kommerzbruch“.
  • Qualität: Audit-Trail, Negativfall-Suche, Theorie-Mapping (Elias/Bourdieu/Rosa/Giddens; RC-Brücke via Esser/Coleman).

Forschungstagebuch

Heute habe ich Gesangsausschnitte aus einem Heimsieg und einer Niederlage verglichen. Offen tauchten „Leidenshumor“ und „Heimatstolz“ auf; axial habe ich sie mit „Erinnerungskapital“ und „Risikoregime“ verknüpft. Ein Interview irritiert: „Ich geh’ aus Gewohnheit – nicht wegen Hoffnung.“ Das wird mein Negativfall zur Annahme, dass Hoffnung die zentrale Ressource ist. Nächster Schritt: Kontrastfall Auswärtsblock plus lokales Kneipengespräch am Tag danach.

Leitfragen

  • Wann stärkt Lokalpatriotismus Inklusion – und wann produziert er Grenzen?
  • Welche Praktiken übersetzen „fränkischen Habitus“ im Stadionalltag (Die Nr. 1 in Franken) – und wie wandeln sie sich?
  • Wo kippt Traditionsstolz in Kommerzialisierung – und wie wirkt das auf Bindung?
  • Wie funktionieren zweckrationalisierte Affekte konkret (Mobilisierung, Sponsoring, Deutungshoheit)?
  • Welche Rollen spielen Humor und Selbstironie beim Umgang mit wiederkehrender Frustration?

Literatur (APA)


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