Teaser
St. Pauli bietet die Gegenöffentlichkeiten der „anderen“ als gelebte Fußballöffentlichkeit: queer-feministisch sichtbar, antirassistisch positioniert, lokal verankert – und doch von kommerziellen Spannungen nicht frei. Mich interessiert, wie Affekte hier politisiert werden und wie daraus eine widerständige Kultur entsteht (Fraser 1990; Warner 2002; Ahmed 2004).
Hinführung
St. Pauli bedeutet „Fußball als Haltung“. Ich werde untersuchen, wie sich am Millerntor Affekte (Stolz, Wut, Fürsorge, Scham) in Praktiken übersetzen: Choreos, Awareness-Teams, Sprache, Banner, Fanprojekte. Analytisch rahme ich das als Gegenöffentlichkeit (Fraser 1990) mit queer-feministischen Politikformen (Butler 1990; Ahmed 2004) und als Affektökonomie (Rosa 2016; Ahmed 2004), die Zugehörigkeit erzeugt und Grenzen markiert – gegenüber Homophobie, Sexismus und Rassismus ebenso wie gegenüber „Fußball als reiner Ware“. Gleichzeitig teste ich, wo Ambivalenzen liegen: Gatekeeping, Tokenismus, Vermarktung des „Andersseins“.
Affektökonomie am Millerntor: „Wir gegen die Kälte“
Ich beobachte, wie kollektive Gefühle zu moralischen Argumenten werden: Stolz aufs Anderssein stiftet Zugehörigkeit; Empörung richtet sich gegen Diskriminierung; Fürsorge zeigt sich in Solidaritätsaktionen. Diese Affekte bündeln sich zu Handlungsrepertoires (Banner, Gesänge, Rituale), die nicht nur Stimmung, sondern Normen kommunizieren (Connell & Messerschmidt 2005; Ahmed 2004).
Queer-feministische Praktiken
- Sichtbarkeit: Regenbogen-, Trans- und Progress-Pride-Symbole; genderinklusive Ansprache; Thematisierung von Care-Arbeit in der Kurve (Butler 1990; Ahmed 2004).
- Awareness: niedrigschwellige Meldestrukturen, „Safer Spaces“, Codices gegen Sexismus/Homofeindlichkeit – empirisch prüfe ich Reichweite und Wirksamkeit (Cleland 2015).
- Allianzen: Antifa-, Refugee-, Anti-Rassismus-Netzwerke; Kooperationen mit Kultur- und Stadtteilinitiativen (Kuhn 2011).
Linke Gegenöffentlichkeit: Vom Stadtteil in die Kurve – und zurück
Ich arbeite mit dem Konzept subalterner Gegenöffentlichkeiten (Fraser 1990): eigene Foren, Fanzines, Social-Media-Accounts, die Deutungsmacht beanspruchen und Mainstream-Medien konterkarieren. Der Stadtteil wird zur Ressource – und zur Grenze: Wer spricht für wen? Wer profitiert ökonomisch? (Warner 2002).
Konfliktlinien & Ambivalenzen
- Kommerzialisierung: Das „Anderssein“ wird markenfähig – wie viel Widerstand bleibt übrig?
- Gatekeeping: Politische Codes können einschließen und ausschließen.
- Performative Widersprüche: Pride-Sichtbarkeit vs. alltägliche Care-Lasten; Anti-Sexismus-Charta vs. Stadion-Alltag.
Diese Spannungen halte ich im Audit-Trail fest und suche Negativfälle, die Kategorien herausfordern.
Methodenfenster: Material & Kodierung
- Material: Spielanalysen, Presseschau, Interviews (Ultras, aktive Fans, Familienblöcke, queere Gruppen), Fanzines, Social Media.
- Sampling: maximal kontrastierend; Nachsteuerung nach jeder Kodierwelle (Charmaz 2014).
- Kodierung: offen → axial → selektiv; Memos zu „Affektunterbrechung“, „Awareness-Pfad“, „Kommerzialisierungsbruch“.
- Qualität: Transparenter Audit-Trail, Negativfall-Suche, Theorie-Mapping (Fraser/Warner/Butler/Ahmed/Connell).
Forschungstagebuch
Heute habe ich eine Choreo-Bildreihe und ein Fanzine-Dossier gemeinsam kodiert. Offen tauchten „Fürsorge-Stolz“ und „Grenzpolitisieren“ auf; axial verknüpfte ich sie mit „Awareness-Praxis“ (Mikro) und „Gegenöffentlichkeit“ (Meso). Eine Interviewsequenz irritiert mein Raster: „Ich mag die Haltung, aber die dauernde Moral nervt.“ Das wird mein erster Negativfall zur Hypothese „Affekt + Moral = Bindung“. Nächster Schritt: Kontrastinterview aus dem Familienblock und Social-Media-Diskussion zum selben Spieltag (Charmaz 2014).
Leitfragen
- Wann stabilisiert Sichtbarkeit (Pride-Symbole) Zugehörigkeit – und wann produziert sie Ermüdung?
- Welche Bruchmomente zeigen, dass Kommerzialisierung das „Anderssein“ vereinnahmt?
- Wie wirken Awareness-Praktiken auf subjektive Sicherheit und Teilhabe?
- Welche Negativfälle relativieren die These der klaren Gegenöffentlichkeit?
- Lassen sich St.-Pauli-Praktiken in andere Fanräume übertragen – oder sind sie ortsgebunden?
Literatur & Links (APA)
- Ahmed, S. (2004). The Cultural Politics of Emotion. Routledge. → The Cultural Politics of Emotion
- Butler, J. (1990). Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. Routledge. → Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity
- Charmaz, K. (2014). Constructing Grounded Theory (2nd ed.). Sage. → Constructing Grounded Theory
- Cleland, J. (2015). Discussing homosexuality on association football fan message boards: A changing cultural context. International Review for the Sociology of Sport, 50(2), 125–140. → Discussing homosexuality on association football fan message boards: A changing cultural context
- Connell, R. W., & Messerschmidt, J. W. (2005). Hegemonic masculinity: Rethinking the concept. Gender & Society, 19(6), 829–859. → Hegemonic masculinity: Rethinking the concept
- Fraser, N. (1990). Rethinking the public sphere: A contribution to the critique of actually existing democracy. Social Text, 25/26, 56–80. → Rethinking the public sphere: A contribution to the critique of actually existing democracy
- Kuhn, G. (2011). Soccer vs. the State: Tackling Football and Radical Politics. PM Press. → Soccer vs. the State: Tackling Football and Radical Politics
- Rosa, H. (2016). Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp. → Resonanz
- Warner, M. (2002). Publics and Counterpublics. Zone Books. → Publics and Counterpublics

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