Mitten drin und doch analytisch
Teaser
Ich beobachte im Geschehen – im Stadion, auf dem Weg dorthin, in Kneipen, in Online-Threads. Ich spreche mit, höre zu, spüre Stimmungen. Und ich halte fest, wie meine eigene Position das Beobachtete färbt. Ziel ist eine dichte Beschreibung (Geertz 1973) und eine selbstreflexive Ethnografie, die Affekte, Zugehörigkeit und Konflikte sichtbar macht, ohne sie zu glätten.
Hinführung
Teilnehmende Beobachtung heißt für mich: Ich nehme teil, aber ich verliere mich nicht. Ich dokumentiere Eindrücke situationsnah (Jottings), überführe sie zeitnah in Feldnotizen und ergänze analytische Memos. Diese Notizen fließen in die Grounded-Theory-Kodierung (offen → axial → selektiv) ein – stets mit dem Blick auf Negativfälle: Wo widerspricht das Feld meinen Annahmen (Charmaz 2014)?
Wo und wie ich beobachte
- Räume: Stadion (Kurve, Familienbereich, Wege, Eingänge), Public Viewing, Kneipen, Bahnen/Busse, Fanmärsche, Online-Foren/Sozialmedia.
- Zeiten: Vorlauf (Anreise, Ticket/Ordnung), Peak (Spiel/Choreo/Proteste), Nachlauf (Abgang, Nachgespräche, Online-Debatten).
- Modi: Go-along (Mitgehen/Mitfahren; Kusenbach 2003), sensory ethnography (Geräuschpegel, Körperdichte, Farben, Gerüche; Pink 2009), digitale Ethnografie (Hine 2015).
Rollenmanagement & Reflexivität
Ich arbeite in Ich-Form und mache meine Voreinstellungen explizit (z. B. Club-Sozialisation, moralische Präferenzen). Ich protokolliere:
- Position (wo stehe/sitze ich? mit wem?),
- Einfluss (ändere ich die Situation durch meine Anwesenheit?),
- Affekt (was macht es mit mir – Stolz, Ärger, Sorge?).
Diese Selbstbeobachtung schützt vor „Going Native“ und vor Othering zugleich (Emerson, Fretz & Shaw 2011).
Notieren: Von Jottings zur dichten Beschreibung
- Jottings (Stichworte im Moment): Gesangsfetzen, Gesten, Blicke, kurze Dialoge.
- Feldnotizen (noch am selben Tag): Kontext, Szenen, wörtliche Zitate (wenn möglich), Sinnesdaten (Lautstärke, Enge).
- Analytische Memos: Erste Kategorien („Leidenshumor“, „Awareness-Pfad“, „Kommerzbruch“), Hypothesen, Fragen an Folgebeobachtungen.
- Audit-Trail: Zeit, Ort, Rolle, Quellen (offline/online), Entscheidungspfade (was veröffentliche ich nicht – und warum?).
Ethik & Datenschutz
- Anonymisierung: Keine Klarnamen; identifizierende Details werden verallgemeinert.
- Kontextschutz: Kombinationen (Ort/Datum/Ereignis) werden ggf. verändert, ohne Sinn zu verzerren.
- Bild-/Tonmaterial: Nur, wenn es öffentlich und unkritisch ist; ansonsten keine Veröffentlichung.
- Digitales Feld: Keine Zitate aus geschlossenen Gruppen/DMs; öffentliche Posts nur mit Sorgfalt und Kontext.
- Widerruf: Hinweise/Korrekturen von Beteiligten setze ich sichtbar um.
- Sensible Situationen (Sicherheit, Minderjährige, Verletzungen): Beobachten ohne Veröffentlichung – Erkenntnisse fließen nur aggregiert ein.
Von der Beobachtung zur Kodierung (Grounded Theory)
- Offenes Kodieren: Begriffe aus dem Feld, dicht an den Worten der Beteiligten.
- Axiales Kodieren: Beziehungen, Prozesslogiken (z. B. „Affektunterbrechung → Gegenreaktion“).
- Selektives Kodieren: Kernkategorien (z. B. Affektökonomie als Bindungs-/Grenzmechanismus).
- Vergleichslogik: Kontraste (Heim/Auswärts, Kurve/Familie, Stadtteil/„Event“) – plus Negativfälle als Test.
Bias-Fallen & Gegenmaßnahmen
- Bestätigungsfehler: Kontrastproben erzwingen; aktiv gegenteilige Stimmen suchen.
- Halo-/Horns-Effekt: Einzelereignisse nicht übergeneralisiert; Zeitreihen bevorzugen.
- Gatekeeping durch Nähe: Gesprächspartner:innen über Rolle informieren; Distanzmarker setzen (Notizphasen, Rückzug).
- Moralische Überhitzung: Humor/Ironie als Datenpunkte – nicht als Abwertung (Simmel 1992).
Template für Feldnotizen (Kurzform)
- FN-ID: FN-YYMMDD-XX
- Setting: Ort · Zeit · Position (z. B. Block, Eingang, Bahn) · Rolle (allein/mit Gruppe)
- Szene: dichte Beschreibung (1–2 Absätze)
- Zitate/Handlungen: „…“ / Gesten / Rituale
- Sinnesdaten: Klang, Körperdichte, Farben, Gerüche
- Memo (offen): erste Codes/Fragen
- Follow-up: Was prüfe ich beim nächsten Mal?
Forschungstagebuch
Heute bin ich mit einer Gruppe Familienfans vom Bahnhof zum Stadion mitgelaufen. In den Jottings tauchten „Sorge um Kinderohren“ und „Stolz aufs Ritual“ auf. In den Feldnotizen kippte „Sorge“ situativ in Fürsorge: ältere Fans machten Platz an Engstellen. Mein Memo-Fragezeichen: Ist Care im Familienblock Ressource für Zugehörigkeit – oder Grenze gegenüber der Kurvenpraxis?
Leitfragen
- Wie verändern Wegstrecken (Anreise/Abreise) die Affektlagen im Vergleich zur Stadionmitte?
- Wann wird Care sichtbar – und für wen?
- Welche Routinen stabilisieren Zugehörigkeit, ohne andere auszuschließen?
- Wo entstehen Gegenöffentlichkeiten – und woran erkenne ich sie im Kleinen (Sprechakte, Symbole, Regeln)?
- Welche Negativfälle relativieren die These, dass Sichtbarkeit automatisch Bindung vertieft?
Literatur & Links (APA)
- Charmaz, K. (2014). Constructing Grounded Theory (2nd ed.). Sage. → Constructing Grounded Theory
- Emerson, R. M., Fretz, R. I., & Shaw, L. L. (2011). Writing Ethnographic Fieldnotes (2nd ed.). University of Chicago Press. → Writing Ethnographic Fieldnotes
- Geertz, C. (1973). The Interpretation of Cultures. Basic Books. → Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture
- Hine, C. (2015). Ethnography for the Internet: Embedded, Embodied and Everyday. Bloomsbury. → Ethnography for the Internet
- Kusenbach, M. (2003). Street phenomenology: The go-along as ethnographic research tool. Ethnography, 4(3), 455–485. → Street phenomenology: The go-along as ethnographic research tool
- Pink, S. (2009). Doing Sensory Ethnography. SAGE. → Doing Sensory Ethnography
- Spradley, J. P. (1980). Participant Observation. Waveland Press. → Participant Observation
- Simmel, G. (1992). Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (Erstausg. 1908). Suhrkamp. → Soziologie (Auszüge/sekundäre Ressourcen)
- Rosa, H. (2016). Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp. → Resonanz (Sekundärressourcen)
