Teaser
Wenn ich Colemans „Badewanne“ im Kopf habe, wird aus Bauchgefühl und Affekt Methode: Makro-Phänomen → Mikro-Mechanismus → Makro-Folge. Genau so lässt sich im Fußball erklären, wie kollektive Affekte entstehen – nicht als Wunder, sondern als Ergebnis nachvollziehbarer Schritte und Wechselwirkungen der verschiedenen beteiligten sozialen Ebenen (Coleman 1990).
Hinführung
Ich knüpfe an unsere vorherigen Kapitel an (Weber, Goffman, Rational Choice, Systemtheorie): Was „irrational“ wirkt (Leidensfähigkeit, Auswärtsfahrten, Boykotte), wird erklärbar, wenn ich individuelle Erwartungen, Anreize und Regeln ernst nehme. Colemans Ansatz ist für mich der Königsweg: Er fordert, Makro-Phänomene (z. B. „Kommerzialisierung“ oder „Stadionkultur“) über Mikro-Handeln und dessen Motivazion zu erklären, um dann zu zeigen, wie daraus neue Makro-Muster werden (Coleman 1990; Esser 1999).
Colemans Badewanne – kurz und knapp
- Makro → Meso → Mikro (Vermittlung): Szenen, Fanprojekte, Vereine und Verbände übersetzen Makro-Rahmen (Liga, Preise, Medien, Recht) in handhabbare Regeln/Anreize vor Ort (Capo-Regeln, Ticket- & Kommunikationspolitik).
- Makro → Mikro (Situationsdefinition): Ligen, Preise, Regeln, Medienrahmen schaffen Anreiz- und Erwartungsstrukturen für Fans, Vereine, Akteur:innen.
- Mikro → Mikro (Mechanismus): Einzelne entscheiden unter Unsicherheit mit bounded rationality und Identitätsnutzen; Szeneregeln koordinieren Beiträge.
- Mikro → Meso → Makro (Aggregation & Rückkopplung): Viele Entscheidungen bündeln sich in Organisationen/Regimen (Choreokassen, Kampagnen) und schlagen als veränderte Programme/Regeln auf Makroebene auf.
Vier Schritte als Checkliste
- Präzise Outcome-Frage: Was ist das zu erklärende Phänomen? (z. B. „Warum halten Fans trotz Niederlagenserien hohe Bindung?“)
- Akteursannahmen offenlegen: Präferenzen (inkl. Affektnutzen), Restriktionen, Informationslage.
- Mechanismus skizzieren: Wie werden Beiträge koordiniert? Welche Szeneregeln reduzieren Trittbrett-Anreize? (Olson 1965)
- Aggregation zeigen: Welche kollektiven Effekte entstehen – und unter welchen Bedingungen kippen sie?
Meso als Zwischeninstanz: Szenen, Organisationen, Regeln
- Aggregation & Koordination: Ultras/Szenen, OFC‑Strukturen, Fanprojekte und Vereinsgremien bündeln Beiträge, setzen Selektivanreize (z. B. Auswärtslisten, Choreokassen) und senken Koordinationskosten.
- Übersetzung & Framing: Meso‑Akteure übersetzen Makro‑Vorgaben (TV‑Slots, Sicherheitsauflagen) in lokale Regeln und Erwartungsrahmen (Eingangspolitik, Capo‑Briefings, Kommunikationslinien).
- Monitoring & Sanktion: Normverstöße werden beobachtet und situativ sanktioniert (Blicke, Hinweise, Ausschlüsse) – Trittbrettanreize sinken, Reputation wird gesteuert.
- Rückkopplung nach oben: Boykotte, Stellungnahmen, Verbandsanträge speisen Erfahrungen in Makro‑Programme zurück.
Affekte im Boot: scheinbar irrational, mechanismisch erklärbar
- Identität & Status (Mikro): „Leiden“ ist rational, wenn es Status als „echter Fan“ stiftet; Kosten werden als Investition gerahmt (Coleman 1990; Akerlof & Kranton 2000).
- Koordination (Meso): Capo-Hierarchien, Kassen, Auswärtscodes machen Beiträge planbar; Emotion wird zur Ressource.
- Rückkopplung (Makro): Medien und Vereine verstärken erfolgreiche Praktiken (Clips, Merch), wodurch Erwartungen und Regeln nachjustiert werden (Hedström & Swedberg 1998).
Beispielpfad: Von Montagsspielen zum Boykott (skizziert)
- Makro: TV-Slots verlagern Spiele.
- Mikro: Individuelle Kosten steigen, Identitätsnormen („Stehplatzkultur“) werden bedroht.
- Mechanismus: Szeneregeln senken Koordinationskosten (Abstimmung, Plakate, Hashtags).
- Makro-Folge: Breite Beteiligung → mediale Resonanz → Verbandsreaktionen. Kein Wunder – ein Mechanismus.
Forschungstagebuch
Nach einer Fanversammlung notiere ich: Die Begründungen für einen Boykott waren durchgängig mechanismisch: Kosten, Fairness, Identität, Reputation. Erst danach fiel der Satz „…weil es sich falsch anfühlt“. Für mich zeigt das Colemans Logik in Reinform: Affekt ist eingebettet in Erwartungen, Regeln und Anerkennung.
Leitfragen
- Wie lassen sich unsere Makro-Begriffe (Kommerzialisierung, Stadionkultur, Inklusion) über Mikro-Mechanismen präzisieren?
- Welche Szeneregeln sind nötig, um kollektive Güter (Stimmung, Sicherheit) dauerhaft zu produzieren?
- Wo scheitert Aggregation – und welche Anreizänderungen reaktivieren Beteiligung?
- Wie variieren Mechanismen zwischen Vereinen (Stadt/Land, Ligaebene, Ressourcenausstattung)?
Literatur (APA)
- Akerlof, G. A., & Kranton, R. E. (2000). Economics and identity. Quarterly Journal of Economics, 115(3), 715–753. Economics and identity
- Coleman, J. S. (1990). Foundations of Social Theory. Harvard University Press. Foundations of Social Theory
- Elster, J. (1989). Nuts and Bolts for the Social Sciences. Cambridge University Press. Nuts and Bolts for the Social Sciences
- Esser, H. (1999). Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Campus. Soziologie. Allgemeine Grundlagen
- Hedström, P., & Swedberg, R. (1998). Social Mechanisms: An Analytical Approach to Social Theory. Cambridge University Press. Social Mechanisms: An Analytical Approach to Social Theory
- Olson, M. (1965). The Logic of Collective Action. Harvard University Press. The Logic of Collective Action
- Simon, H. A. (1957). Models of Man. Wiley. Models of Man

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