2.2.3.22 El Classico: Marx und die Verfremdung des Fußballs vom Fan

Teaser

Marx im Stadion als Diagnose der Entfremdung: Aus Beziehung wird Ware, aus Gemeinschaft wird Marktsegment. El Classico heißt hier: der klassische Marx trifft den „Klassiker“ Fußball. Wenn Fans ihr „Produkt“ (Stimmung, Zeit, Geschichten) nicht mehr wiedererkennen, sprechen wir von Verfremdung – im marxschen Sinn von Entfremdung (Marx 1844/1968; 1867/1962).

Hinführung

Marx fragt nach den gesellschaftlichen Formen, in denen Arbeit, Dinge und Menschen zueinander stehen. Ich übersetze das auf Fußball in drei Aspekten:

(1) Entfremdung (vom Produkt, vom Prozess, voneinander, vom Gattungswesen),

(2) Warenfetischismus (Dinge verdecken soziale Verhältnisse),

(3) Verdinglichung (Lukács). Im Hintergrund klingen Debords Spektakel und unsere Kapitel zu Weber (Zweckrationalisierung), Bourdieu (Kapital), Rosa (Resonanz) und Habermas/Fraser (Gegenöffentlichkeit) mit.

Vierfach entfremdet – auf die Kurve gemappt

  1. Vom Produkt: Wir „produzieren“ Stimmung, Bilder, Narrative – doch das Ergebnis gehört uns selten: Rechte, Clips, Merchandise werden fremdverwertet.
  2. Vom Prozess: Der Stadionbesuch wird durchorganisiert (Slots, Wege, Dynamic Pricing); der eigene Anteil fühlt sich reduziert an – vom Mit‑ zum Zuschauer.
  3. Voneinander: Segmente (VIP/Kurve/Familie/Auswärts) trennen Erfahrungswelten; Konkurrenz um Tickets, Sichtbarkeit, Deutung verdinglicht Beziehungen.
  4. Vom Gattungswesen: Gemeinschaftliche Praxis schrumpft zur Kennzahl („Engagement“, „ARPU“); Weltaneignung als Fan wird zur Konsumroutine (Marx 1844/1968).

Warenfetischismus: Dinge sprechen, Verhältnisse schweigen

Das Trikot „steht“ für Treue, der Marktwert „beweist“ Qualität, der Token „macht“ Teilhabe – Dinge treten als Träger sozialer Kräfte auf. Dabei verdecken sie die Arbeit und die Beziehungen, die sie ermöglichen: Nachwuchsarbeit, Care‑Arbeit in Szenen, Community‑Netze (Marx 1867/1962; Debord 1967/1996).

Verdinglichung & Spektakel

Mit Lukács lese ich, wie Menschen zu Sachen werden: Spieler als „Assets“, Fans als „Reichweite“. Debords Spektakel zeigt, wie die Darstellung des Spiels das Spiel selbst überstrahlt – Kameraführung, Rechtepakete, Social‑Media‑Loops (Lukács 1923/1968; Debord 1967/1996).

Affektökonomie & Mehrwert

Affekte erzeugen Wert: Stimmung, Ehrenamt, Content – oft als unbezahlte oder unterbezahlte Arbeit. Vereine, Ligen, Plattformen internalisieren diesen Mehrwert; Fans erhalten symbolische Erträge (Status, Nähe), selten materielle. Mit Weber gelesen: Das ist zweckrational gerahmt (Regeln, Programme), bleibt aber asymmetrisch verteilt (Bourdieu 1986; Fuchs 2014).

Gegenbewegungen: De‑Fetischisierung & Gegenöffentlichkeit

Supporters’ Trusts, 50+1‑Debatten, Fanprojekte, queere Fanclubs – Kollektive benennen die sozialen Verhältnisse hinter der Ware „Spiel“. Sie schaffen Gegenöffentlichkeiten (Fraser), die Preise, Anstoßzeiten, Sanktionslogiken verhandelbar machen. Resonanz kehrt zurück, wenn Praxis (Mitbestimmung, Safe Standing, Community‑Programme) Wert vor Ware setzt.

Praxis‑Impuls

  • Transparenz: Offenlegen von Preis‑/Rechte‑/Kaderlogiken (De‑Fetischisierung).
  • Teilhabe: Gremienquoten, Anhörungen, partizipatives Ticketing; Stimmung als Gemeingut behandeln.
  • Umverteilung: Revenue‑Sharing, Nachwuchsquote, Community‑Budgets.
  • Infrastruktur der Nähe: Stehplätze, Wege, akustische Zonen – Resonanz statt nur Reichweite.

Forschungstagebuch (kurz)

In meinen Notizen zu einem „Topspiel“: Pre‑Game‑Show dominiert, Einlass in Slots, Preise hoch. Der Block klingt gehemmt. Eine Woche später: Zweitligaspiel, günstige Tickets, kurzer Zaunweg, Capo nah – Resonanz. Für mich zeigt das: Entfremdung/Verfremdung ist kein Gefühl, sondern ein Arrangement aus Regeln, Preisen, Wegen und Bildern.

Leitfragen

  • Welche Elemente meiner Stadionpraxis verfremden (Preise, Wege, Rechte) – und welche entfremden (Beziehungen, Arbeitsteilung)?
  • Wo lässt sich Warenfetischismus aufschließen (Wer hat welche Arbeit geleistet?)?
  • Welche Formen von Teilhabe reduzieren Verdinglichung messbar?
  • Wie koppeln wir Affektwert an Gemeinwohl (Nachwuchs, Stadtteil, Diversität)?

Literatur (APA)


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