Teaser
Mit Armin Nassehi schaut man ein wenig anders auf Choreos, Jubelläufe, Boykotte und Social‑Media‑Statements. Die große Geste – liest man den Essay im übertragenen Sinne – auf dem Platz ist pure Emotion – und ist zugleich kommunikative Operation, die Komplexität reduziert und Anschluss erzeugt. Vielen Dank an dieser Stelle für das Buch, das mir Luhmann endlich und verständlich näher brachte.
Meine folgende Spielkritik fragt: Welche Regeln und Kopplungen machen eine affektive Geste auf dem Feld im Sinne des Systems rational? Meine Stilkritik prüft: Welche Formen, Tempi und Moraltonarten funktionieren rund ums Spiel – und warum (nicht)? (Nassehi 2015; 2019).
Hinführung
Nassehi erinnert mich an die Vielstimmigkeit der Gesellschaft: Verschiedene Teilsysteme (Sport, Medien, Politik, Wirtschaft) agieren und reagieren nach jeweils eigenen Logiken.
Die große Geste, um in Nassehis Bild zu bleiben, ist Adressmanagement: Sie soll in möglichst vielen „Arenen“ verstanden werden – TV, Streaming, Feeds, Gremien,…
Die „große Geste“ als Komplexitätsreduktion
- Signal statt Argument: Ein 30‑Meter‑Sprint zur Kurve, die Mega‑Choreo, der Block‑Walkout – sekundenschnell lesbar, anschlussfähig in Clips.
- Mehrfachadressierung: Fans, Gegner, Medien, Verband – eine Geste muss in alle Richtungen funktionieren, sonst „verpufft“ sie (Nassehi 2019).
- Wahrheitsdurst: In konfliktreichen Lagen wird die Geste zur Wahrheitsbehauptung („wir sind der Verein“) – und entlastet von langen Begründungen (Nassehi 2015).
Spielkritik: Regeln, Kopplungen, Nebenfolgen
- Regeln (Stadionordnungen, Sanktionskataloge) und Kopplungen (TV‑Regie, Social‑Feeds) erzeugen „Gelingensbedingungen“ für Gesten.
- Nebenfolgen (Beck): Sichtbarkeitsgewinne können Gegen‑Sichtbarkeit erzeugen (Shitstorm, Kollektivstrafen).
- Timing: VAR‑Pausen und Halbzeitfenster machen Gesten planbar – und damit zweckrational (Weber) statt „spontan“.
Stilkritik: Pose, Moral, Tempo
- Pose: Überhöhung funktioniert, wenn sie ästhetisch eingebettet ist (Choreografie, Farben, Slogans).
- Moraltonarten (Boltanski/Thévenot): Gerechtigkeit, Leistung, Ruhm – Gesten „spielen“ in bestimmten Rechtfertigungsordnungen.
- Tempo/Intensität (Rosa): Zu schnell/zu laut kann taub machen; Resonanz braucht Widerhall, nicht nur Lautstärke.
Affektökonomie der großen Geste
Was wie reine Ekstase wirkt, ist häufig gerahmter Affekteinsatz: Capo‑Signale, Kameraführung, Hashtags. Symbolkapital (Titel, Ikonen) verstärkt die Reichweite, soziales Kapital (Netzwerke) verbreitet sie, kulturelles Kapital (Capo‑/Medien‑Könnerschaft) macht sie präzise. Damit schließt sich der Bogen zu Weber (Zweckrationalisierung), Goffman (Vorderbühne) und Bourdieu (Kapital).
Grenzen der großen Geste
- Überperformanz: Groß ohne Grund wirkt hohl; das Publikum spürt Missklang.
- Backfire: Moralische Überhöhung ruft Gegen‑Gesten hervor; Feeds belohnen Konflikt.
- Verlust der kleinen Praxis: Zu viel Frontstage verdeckt die Infrastruktur (Care‑Arbeit, Orga, Nachwuchs), die Stimmung erst ermöglicht (vgl. Allmendinger).
Praxis‑Impuls
- Spielpläne offenlegen: Wofür steht die Geste – und was folgt danach?
- Kleines groß machen: Anerkennung für unsichtbare Arbeiten (Basteln, Care, Orga) erhöht Resonanzfähigkeit.
- Formate variieren: Nicht jede Debatte braucht eine Choreo; manchmal wirkt die kleine, präzise Geste stärker.
Forschungstagebuch (kurz)
Zwei Spiele, zwei Gesten: Einmal „Stiller Block“ 20 Minuten, danach klarer Appell – die TV‑Grafik greift’s auf. Eine Woche später Mega‑Choreo ohne Anlass – schöne Bilder, wenig Nachhall. Mein Fazit: Passung zählt – Gesten müssen zur Lage, zu den Regeln und zum Publikum passen.
Leitfragen
- In welchen Arenen sollen große Gesten wie verstanden werden – und welche Nebenfolgen sind in Kauf zu nehmen?
- Welche Rechtfertigungsordnungen werden adressiert (Gerechtigkeit, Leistung, Ruhm) – und wie konsistent ist die Form?
- Wo stört die große Geste notwendige Routine im Spiel – und wie balanciere beides?
Literatur (APA)
- Boltanski, L., & Thévenot, L. (1991/2006). On Justification: Economies of Worth. Princeton University Press. On Justification: Economies of Worth
- Bourdieu, P. (1986). The forms of capital. In J. Richardson (Ed.), Handbook of Theory and Research for the Sociology of Education (pp. 241–258). Greenwood. The forms of capital
- Goffman, E. (1959). The Presentation of Self in Everyday Life. Doubleday. Wir alle spielen Theater.
- Nassehi, A. (2015). Die letzte Stunde der Wahrheit. C.H. Beck. Die letzte Stunde der Wahrheit
- Nassehi, A. (2019). Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. C.H. Beck. Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft
- Reckwitz, A. (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten. Suhrkamp. Die Gesellschaft der Singularitäten
- Rosa, H. (2016). Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp. Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung

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