2.2.3.17 Ulrich Beck: Unsicherheiten auf dem Spielfeld

Teaser

Unter Anderem Ulrich Becks Risikogesellschaft hat mich kurz vorm Abitur zum sozialwissenschaftlichen Studium motiviert. Daher findet auch er Platz in meiner Suche nach Erklärungen in der Soziologie vom Fußball: Unsicherheit ist kein Unfall, sie ist strukturell erzeugt – durch Organisation, Technik, Märkte, Medien. Im Stadion erleben wir das als Nervenkitzel, im Vereinsalltag als Risikomanagement. Genau diese Doppelbewegung – Lust an der Ungewissheit und bürokratische Eindämmung – macht die Gegenwart des Spiels aus (Beck 1986/1992; Beck 2007).

Hinführung

Becks Risikogesellschaft beschreibt „hergestellte“ Risiken der Moderne: Sie entstehen aus unseren eigenen Lösungen (Technik, Märkte, Regulierungen). Im Fußball sehe ich dieselbe Logik: Daten- und Sicherheitsregime reduzieren manche Gefahren, erzeugen aber neue (Transparenzkonflikte, VAR‑Debatten, Ticketing‑Frust). Mit Giddens (Reflexivität) und Power (Audit/Risk Management) lese ich, wie Organisationen permanent nachjustieren – während Fans die Affektseite der Unsicherheit genießen (Elias & Dunning 1986; Giddens 1990; Power 2004).

Risiko- und Unsicherheitsregime im Fußball

  • Technische Risiken: VAR, Wearables, Datenscouting – mehr Messung, neue Streitigkeiten (Fehlertoleranzen, Intransparenz).
  • Ökonomische Risiken: Transferblasen, TV‑Abhängigkeiten, Währungs‑/Zinsrisiken; Vereine sichern mit Verträgen, Kaderdiversifikation, Versicherungen.
  • Sicherheitsrisiken: Crowd‑Management, Pyro, An- und Abmarsch – Standardprozeduren entlasten, aber verschieben Verantwortung.
  • Reputationsrisiken: Social‑Media‑Shitstorms, politische Debatten; Reaktionen folgen oft Audit‑Logiken (Compliance, Codes of Conduct).

Affektökonomie der Ungewissheit

Elias/Dunning erinnern mich: Spannung lebt von kontrollierter Unkontrolliertheit. Die Liga produziert Ungewissheit (Wettbewerb, Spielpläne); Fans investieren Affekte in diese Unsicherheit – Auswärtstouren, Aberglauben, Routinen. Mit Weber gelesen: Affekte wirken irrational, sind aber zweckrational gerahmt (Rituale, Szeneregeln). Becks Pointe: Dieselben Rahmen produzieren neue Nebenfolgen, die wieder Affekte auslösen – eine reflexive Spirale.

Reflexive Modernisierung: Lernen im Regelbetrieb

Skandale und Krisen (Fehlentscheidungen, Sicherheitspannen, Pandemie) führen zu Regelreformen: neue Protokolle, Technik‑Upgrades, Kommunikationsleitfäden. Das System verändert sich durch seine Störungen – typisch Beck/Giddens. Doch mit jeder „Lösung“ entsteht neue Unsicherheit (Akzeptanz, Fairness, Zugang), die erneut bearbeitet werden muss.

Mikro–Meso–Makro: Wer trägt welches Risiko?

  • Mikro (Fans/Spieler:innen): Reisen, Gesundheit, Reputation; Coping durch Routinen, Gruppenhalt, Medienaskese.
  • Meso (Vereine/Szenen): Budget- und Sicherheitsplanung, Szenecodes, Awareness‑Arbeit; „Audit Society“ prägt die Praxis (Power).
  • Makro (Ligen/Politik/Medien): Regulierungen, Spielpläne, TV‑Zeiten; globale Ereignisse (Klimarisiken, Geopolitik) schlagen direkt auf den Fußball durch.

Forschungstagebuch (kurz)

In meinen Notizen nach einem Derby: Vor dem Spiel nervöse Lage (Gerüchte in Messenger‑Gruppen), im Stadion dann überraschend ruhig – weil Ordner und Capos kleine Unsicherheiten aktiv moderieren (Türpolitik, Informationen, Tempo der Gesänge). Später kippt die Debatte online: VAR‑Diskurs, Schuldzuschreibungen. Für mich ein typisches Beck‑Muster: Unsicherheit wandert – sie verschwindet nicht. Tatsächlich habe ich dies eben erlebt. Freitag, 03.10.2025, 18:30 bis fast 20:30. Ein schönes Clubspiel, auswärts in Düsseldorf. Der Club geht mit 1:0 in Führung. Düsseldorf gleicht aus. Nürnberg führt wieder 2:1. Düsseldorf gleicht wieder aus. Und Nürnberg geht in der Schlussphase wieder in Führung und gewinnt nach einer unendlich langen – von Unsicherheiten, Adrenalin, Anspannung, Wegschauen, Hinschauen geprägten – Nachspielzeit 3:2. Auswärtssieg! Ich erlebe während dieser fast 120 Minuten viele extreme Gefühle: Anspannung – Freude – Enttäuschung – Freude – usw. Und wieder bestärkt es mich darin zu erforschen, warum und was der Fußball mit uns Fans vor und während der Spielzeit macht. Und warum wir uns dies jeden Spieltag, jede Saison aufs Neue antun. Während wir andernorts Unsicherheiten meiden und zu kontrollieren suchen, suchen wir sie hier im wahrsten Sinne des Wortes.

Leitfragen

  • Welche „Lösungen“ erzeugen im Verein neue Nebenfolgen – und wie werden sie kommuniziert?
  • Wo liegt das Verhältnis von Spannung (Affekt) zu Sicherheit (Regel) produktiv – und wo kippt es?
  • Wie verteilen sich Risiken zwischen Fans, Vereinen und Verbänden – materiell, symbolisch, rechtlich?
  • Welche Praktiken reduzieren gefühlte Unsicherheit, ohne die Spielspannung zu ersticken?
  • Warum tun sich Fans diese Unsicherheiten immer wieder aufs Neue an?
  • Ist der Fußball bereits in der Postmoderne angekommen? VAR –> alte Unsicherheiten werden durch neue technisierte Unsicherheiten nicht ersetzt, sondern kommen hinzu.

Literatur (APA)


Entdecke mehr von Fußball-Soziologie

Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert