2.2.3.13 Frei nach Putnam: Corona oder Watching Soccer Alone

Teaser

Als die Stadien leer waren, habe ich Putnam neu gelesen: Bowling Alone – nur eben während des Watching Soccer Alone. Gemeinschaft verschwand nicht, aber sie verflachte: von leibhaftiger Gegenwart zu Streams, Chats und Emotes. Für mich ist das ein Lackmustest für soziales Kapital im Fußball (Putnam 2000) – und ein Stresstest für kollektive Ekstasen (Durkheim) und Vorder-/Hinterbühnen (Goffman).

Hinführung

Putnam unterscheidet bonding (Bindung nach innen) und bridging (Brücken nach außen). In der Corona-Zeit erlebte ich: Bonding blieb als Kern (WhatsApp-Teams, geschlossene Foren), bridging schrumpfte (zufällige Begegnungen, Kneipen, Zugfahrten). Der Verein blieb Symbol, doch die Infrastruktur der Nähe fiel aus. Was übrig blieb, war ein dünner, aber zäher Faden: Watching Soccer Alone – Fansein ohne Stehplatz, ohne Choreo, ohne Nachbarschaft im Block. In meine vorherigen Kapitel (u. a. Elias/Dunning, Goffman, Weber) greife ich hier zurück und lese die Pandemie als Extremsituation für Affektordnungen.

Dieses Geisterspiel nach einer Geisterfahrt meines Club bleibt mir im Gedächtnis eingebrannt.

Was verloren ging: Resonanz, Ritual, Zufall

  • Resonanzräume (Rosa): Ohne geteilte Körperrhythmen fehlte der unmittelbare Gegengesang, das „Zurücksprechen“ der Kurve.
  • Ritualketten (Durkheim): Das Hochziehen kollektiver Stimmung blieb aus; der „Funken“ sprang seltener.
  • Zufallsbegegnungen (Putnam): Kein kurzer Dialog am Zaun, keine neue Bekanntschaft am Auswärtsbahnsteig – bridging wurde brüchig.

Was entstand: Ersatzarenen und dünne Öffentlichkeiten

  • Private Hinterbühnen (Goffman): Signal/Discord/Telegram als Ersatzkurven – koordiniert, aber fragil.
  • Algorithmische Vorderbühnen: Feeds und Liveticker ersetzten das Stadion-Publikum – Sichtbarkeit wurde plattformlogisch kuratiert.
  • Affektökonomie @home: Emotionsspitzen wanderten in Watch‑Partys, Emojis, Sprachnachrichten. Die Zweckrationalisierung von Affekten (Weber) zeigte sich in minutiösen Heimritualen: gleicher Platz, gleiches Getränk, gleiches Timing – Kontrolle statt Zufall.

Sozialkapital im Stresstest: Bonding > Bridging

Putnams These vom Rückgang des sozialen Kapitals las sich im Fußball plötzlich empirisch: Stabile Kerne hielten (bonding), schwache Brücken verdorrten (bridging). Choreokassen blieben gefüllt, aber Neueinstiege versiegten. Szenen konnten integrieren, doch rekrutieren fiel schwer. Das senkt mittelfristig Dichte und Erneuerungsrate.

Affekte zwischen Beinahe‑Leere und Nachhall

Ohne Publikum veränderte sich selbst das Spiel: Der dramaturgische Nachhall („roar after goal“) fehlte, Performances kippten in training artige Routinen. Gleichzeitig beobachtete ich Überkompensation: In Chats wurden Jubel und Ärger sprachlich überhöht; Clipsequenzen ersetzten Kollektivmomente, Sponsortafeln flankierten den Affekt – Rationalisierung in Reinform (Weber).

Forschungstagebuch

Ich habe in der Hochphase der Geisterspiele mit zwei Gruppen geschrieben: einer Ultra‑Crew und einer Familienrunde. Beide hielten bonding hoch – die Ultras über strikte Chat‑Rituale, die Familienrunde über feste Video‑Slots. Bridging brach weg: „Neue Leute“ kamen praktisch nicht dazu. Mein Fazit: Football Watching Alone funktioniert – aber es verarmt die sozialen Texturen.

Leitfragen

  • Wie lässt sich bridging nach Corona gezielt stärken (Niedrigschwelligkeit, Fanprojekte, Ticketing)?
  • Welche hybriden Rituale (Stadion + digital) erhöhen nachhaltige Teilhabe statt nur Reichweite?
  • Wie verändern Plattformlogiken (Algorithmus, Sichtbarkeit) die Affektökonomie von Vereinen und Szenen?
  • Welche Lerneffekte aus den Ersatzarenen sollten bleiben – und welche sollten wir bewusst abschaffen?

Literatur (APA)


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