Wozu eine Makroperspektive?
Ich verstehe Affektkontrolle im Fußball als ein Mehrebenen-Phänomen. Auf der Makroebene strukturieren politische Ordnung, wirtschaftliche Logiken und rechtliche Rahmen die Möglichkeiten, in denen Vereine (Meso) und Akteure (Mikro) handeln – und in denen sich Affekte entfalten, gedämpft oder zugespitzt werden. Regeln zu Versammlung und Sicherheit, TV-Verträge, Ticketpreispolitiken, Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsrecht, Verbandsreglements (z. B. „Financial Fair Play“) oder städtische Stadionentscheidungen bilden die Anreiz- und Sanktionsarchitektur, die auf Fanseiten, Kurven, Vereine und Verbände rückwirkt (Coleman 1990; Esser 1999).
Im Sinne der Coleman’schen Badewanne übersetze ich Makro-Regeln in mikrofundierte Mechanismen: Gesetze und Märkte beeinflussen Erwartungen, Kosten/Nutzen-Kalküle und Normvorstellungen einzelner Akteure; aggregiert zeigen sich diese Effekte als veränderte Stadionatmosphären, Protestintensitäten oder Teilhabemuster (Coleman 1990; Bourdieu 1992).
Politik: Governmentality, Öffentlichkeit, Sicherheit
Politische Steuerung bewegt sich zwischen Freiheitsrechten (Meinungs-, Versammlungsfreiheit) und Sicherheitslogiken (Gefahrenabwehr, Stadionordnungen). In der Praxis sehe ich eine doppelte Dynamik:
- Öffentlichkeit & Gegenöffentlichkeit: Fußball ist Teil einer politisierten Öffentlichkeit (Habermas 1962/1990), in der Fans als Gegenöffentlichkeiten (Fraser 1990) auftreten – etwa bei Protesten gegen Anstoßzeiten, Kommerzialisierung oder diskriminierende Praktiken.
- Governmentality: Sicherheits- und Präventionspolitiken implementieren Formen der Selbstführung (z. B. Auflagen, Meldeauflagen, personalisierte Tickets), die Verhalten antizipativ lenken (Foucault 1978).
Diese politischen Arrangements setzen Affektgrenzen: Was als „leidenschaftlich“ versus „übergriffig“ gilt, verschiebt sich mit Polizeikonzepten, kommunalen Stadienentscheidungen und nationalen Gesetzesänderungen (z. B. Versammlungsrecht, Antidiskriminierung). Für die Grounded Theory sind die Situationsdefinitionen zentral: Welche Akteur:innen legitimieren mit welcher Begründung Eingriffe in die Fankultur – und wie reagieren Fans kollektiv (Normappelle, zivilgesellschaftliche Koalitionen, juristische Schritte)?
Ökonomie: Einbettung, Marktlogiken und die Ökonomie der Affekte
Ich interpretiere den Profifußball als sozial eingebetteten Markt (der Gefühle) (Polanyi 1944; Beckert 2009): Medienrechte, Sponsoring, Wettanbieter, Transfermärkte, Plattformlogiken und lokale Standortpolitik bilden ein Gewebe, das Affekte ökonomisiert (Aufmerksamkeitswerte, Emotional Branding) und zugleich kanalisiert (Preis- und Zugangspolitik). Drei Mechanismen sind leitend:
- Preis-/Zugangssteuerung: Ticketpreise, personalisierte Tickets, Kontingente beeinflussen Teilhabestrukturen (Klasse, Alter, Geschlecht) – damit verschieben sich Lautstärken, Rituale und Konfliktlagen in der Kurve.
- Wertschöpfungsketten der Aufmerksamkeit: Spielzeiten, TV-Slots und Social-Media-Formate koppeln Affekterzeugung an Werbemärkte; „Fernsehgerechtes“ Timing kann die Affektökonomie vor Ort (Anreise, Tagesrhythmus) dämpfen oder aufheizen.
- Institutionelle Vielfalt: Unterschiedliche Kapitalismen (z. B. korporatistisch vs. liberal) sowie Vereins- und Ligenmodelle (Mitgliedervereine, 50+1, Investorenklubs) erzeugen alternative Regelräume (Streeck 2010; North 1990).
Pfadabhängigkeiten: Historische vs. kapitalistische Finanzierungsweisen und kommunale Stadionpolitik prägen, wie Vereine heute in Krisen moderieren (Subvention vs. Markt), wie Teilhabe organisiert wird (Familienblöcke, Safe Standing) und wie Protest adressiert wird (Dialogformate, Repression, Beteiligung).
Recht: Institutionen, Gleichheit und Sanktionen
Rechtliche Rahmen sind der harte Kern der Affektkontrolle:
- Grundrechte/Antidiskriminierung: Recht schützt Teilhabe (z. B. Gleichbehandlung, Barrierefreiheit, Schutz vor rassistischer/sexistischer Diskriminierung). Dadurch entstehen positive Pflichten für Verbände und Vereine (Diversity-Policies, Beschwerdewege).
- Hausrecht & Stadionordnungen: Über Hausordnungen operationalisieren Klubs Sanktionsketten (Platzverweise, Stadionverbote). Ihre Reichweite und Verhältnismäßigkeit sind zentrale Streitpunkte in der Fanforschung.
- Verbandsrecht & Lizenzierung: Lizenzen, Sicherheitsauflagen, „Financial Fair Play“ oder Compliance-Regeln formen die Sanktionsarchitektur zwischen Verband und Klub; sie beeinflussen Vereinsentscheidungen bis hin zu Spielbetriebsverlegungen.
Recht wirkt jedoch nicht nur restriktiv, sondern auch ermächtigend: Es schafft Rechtsansprüche (z. B. Gleichstellung, Mitbestimmung), die Fangruppen strategisch nutzen, um Zugang, Sichtbarkeit und Sicherheit einzuklagen.
Mechanismenmodell (Makro → Meso/Mikro)
- Anreizsetzung (z. B. Subventionen, TV-Gelder, Ticketbündel) → verändert Vereinsstrategien & Fanentscheidungen.
- Sanktionierung (Verbote, Lizenzauflagen, Strafzahlungen) → verschiebt Toleranzschwellen und Protestrepertoires.
- Selektion (Zugangsbeschränkungen, Personalisierung) → formt die soziale Zusammensetzung der Kurven.
- Ressourcenverteilung (Einnahmen, Infrastrukturen) → bedingt lokale Affekträume (Familienblöcke, Barrierefreiheit, Safe Standing).
- Legitimation (öffentlich-rechtliche/debattenkulturelle Rechtfertigungen) → beeinflusst, was als „legitimer“ Affekt gilt (Habermas 1962/1990; Fraser 1990).
Empirische Implikationen
Für die Grounded Theory setze ich folgende Datenquellen:
- Politische Dokumente (Kommunalbeschlüsse zu Stadien, Landes-/Bundesregelungen zu Versammlungen/Sicherheit, Gleichstellungspläne).
- Verbandsreglements (Lizenzierung, Sicherheitsrichtlinien), Klub-Hausordnungen.
- Ökonomische Artefakte (Ticketpreisverläufe, TV-Zeitfenster, Sponsoringverträge, Stadionfinanzierungen).
- Rechtsfälle/Beschwerden (Diskriminierung, Stadionverbote) und Fanreaktionen (Bündnisse, Kampagnen).
Integration mit Meso (2.4.2.2) und Mikro (2.4.2.1), um qualitative Prozessmodelle zu entwickeln: Wie wandeln sich Affektregime, wenn z. B. Ticketpreise ansteigen, personalisierte Tickets eingeführt werden oder Kommunen Stadionumbauten beschließen? Welche Gegenstrategien (Selbstregulation, Gegenöffentlichkeit, Rechtsmobilisierung) entstehen?
Leitfragen für die weitere Analyse
- Welche Makro-Regeln strukturieren die Affektgrenzen in unseren Fallvereinen am stärksten?
- Wie wirken Preis-/Zugangsentscheidungen auf die soziale Zusammensetzung der Kurve – und damit auf Lautstärke, Rituale, Konflikte?
- Wo erzeugen Sicherheitslogiken (z. B. Personalisierung) paradoxe Effekte (Verdrängung, Solidarisierung, kreative Umgehung)?
- Welche Rechtsmobilisierungen (Gleichstellung, Antidiskriminierung) führen zu nachhaltigen Veränderungen im Stadionalltag?
- Unter welchen Bedingungen werden Makro-Konflikte (Kommerzialisierung, Regulierung) produktiv in Meso-Innovationen (Dialogformate, Beteiligung) übersetzt?
Die Makroebene ist kein ferner „Hintergrund“, sondern affektlogisch wirksam – über Anreize, Sanktionen, Selektionen, Ressourcen und Legitimation. Für die Fallarbeit plane ich Kontrastpaare (z. B. Mitgliederverein mit 50+1 vs. Investorenklub; kommunales Stadion vs. privat; restriktives vs. dialogisches Sicherheitsregime), um Mechanismen sauber zu identifizieren.
Literatur
- Beckert, J. (2009). The social order of markets. Theory and Society, 38(3). Google Scholar
- Bourdieu, P. (1992). Die Regeln der Kunst / Feldtheorie. Google Scholar
- Coleman, J. S. (1990). Foundations of Social Theory. genialokal
- Esser, H. (1999). Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 1: Situationslogik und Handeln. genialokal
- Foucault, M. (1978). Sicherheit, Territorium, Bevölkerung / Governmentality. Google Scholar
- Fraser, N. (1990). Rethinking the public sphere: A contribution to the critique of actually existing democracy. Google Scholar
- Habermas, J. (1962/1990). Strukturwandel der Öffentlichkeit. genialokal
- North, D. C. (1990). Institutions, Institutional Change and Economic Performance. genialokal
- Polanyi, K. (1944). The Great Transformation. genialokal
- Streeck, W. (2010). Re-Forming Capitalism. genialokal

Schreibe einen Kommentar