2.4 Der Ball ist Rund und das Spiel dauert 90 Minuten und am Ende…

Über Unsicherheit als Phänomen und Faszinosum

Unsicherheit ist kein Defekt des Fußballs, sie ist sein Faszinosum: Der Ausgang ist offen, das Skript lückenhaft, Gefühle sind in der Schwebe. Zwischen Anpfiff und Abpfiff entsteht ein Labor der Kontingenz – organisiert, umkämpft und kommerzialisiert. In diesem Kapitel lese ich Unsicherheit als soziale Praxis, als Affektmotor und als Regelproblem (Hughson et al. 2016; Giulianotti 2015; Cleland 2015).

Hinführung: Was heißt hier „Unsicherheit“?

Unsicherheit meint für mich (1) Ergebnisoffenheit (wer gewinnt?), (2) Prozess‑Ungewissheit (wie? wann kippt es?), (3) Umfeld‑Risiken (Sicherheit, Preise, Zugänge) und (4) Deutungslücken (VAR, Regelauslegung). Zentral ist: Unsicherheit wird hergestellt, gerahmt und verarbeitet – durch Verbände, Vereine, Medien, Fans. Sie ist damit ein kulturelles Produkt und kein Naturphänomen (Hughson et al. 2016; Cleland 2015).

Kernideen der letzten 15 Jahre – knapp und anwendungsnah

  1. Unsicherheit als Attraktor: Studien zeigen, dass Spannung und Outcome‑Unsicherheit Nachfrage und Emotionen fördern – aber in Balance mit Star‑/Markenlogiken stehen müssen (Frontiers in Psychology 2020).
  2. VAR und die „neue Ungewissheit“: Technische Korrektur reduziert manche Regelfehler, erzeugt aber Warte‑, Zweifel‑ und Gerechtigkeits‑Unsicherheiten (Scelles et al. 2021; Frontiers Sports 2021).
  3. Risikogesellschaft im Stadion: Nach Terror, Pandemie und „Sicherheitswenden“ verhandeln Fans Sicherheit vs. Erlebnis neu; manche akzeptieren, andere reagieren mit Widerstand (risk society‑Arbeiten 2018–2025).
  4. Integritätsrisiken: Match‑fixing und Wettmärkte bedrohen Ergebnisoffenheit und Vertrauen – Befunde zeigen unterschiedliche Stakeholder‑Risikowahrnehmungen und kombinierte sporting‑/betting‑Fixing‑Formen (Van Der Hoeven et al. 2023).
  5. Soziale Kohäsion & Mobilität: Fankultur stiftet über Grenzen hinweg Verbindung – trotz Unsicherheiten; Reisen und Austausch nehmen zu, wirken aber ungleich (Biel 2025).
  6. Ghost Games als „Experiment“: Leere Stadien senken Heimvorteil und verändern Schiri‑Entscheidungen – Unsicherheit verschiebt sich von der Masse zum Monitor (Frontiers Sports 2021; CESifo 2020; EconMod/ETH 2020).

Wie Unsicherheit gemacht wird (und wem sie nützt)

  • Liga‑/Wettbewerbsdesign: Auf‑/Abstieg, Playoffs, Auswärtstorregeln (abgeschafft), TV‑Slots – kalibrieren Spannung vs. Planbarkeit (Hughson et al. 2016).
  • Regelregime & Technik: VAR, GLT, Zusatzspieloffizielle – reduzieren Regelunsicherheit, erzeugen Warteschleifen und Deutungskämpfe (Scelles et al. 2021).
  • Kommerzialisierung: Wetten, Preis‑/Kontingentpolitik, Hospitality – monetarisiert Unsicherheit und verteilt Zugänge (Cleland 2015).
  • Sicherheit & Surveillance: Personalisierte Tickets, VDS, Stadion‑Zutritt – risiken werden gemanagt, Freiheiten neu begrenzt (risk society‑Arbeiten 2018–2025).
  • Mediale Dramaturgie: Cliffhanger‑Inszenierungen, Suspense, „Check in progress“ – kuratierte Gefühlsverläufe (Giulianotti 2015).

4R‑Heuristik: Unsicherheit als Affektregie

  • Regeln: Klare Normen geben Boden, Unklarheit stiftet Diskurs – wichtig ist Legitimität der Verfahren (Frontiers Sports 2021).
  • Rituale: Stille bei VAR, kollektives Atmen vor Elfmeter, Ironie nach Rückstand – Rituale dosieren Unsicherheit.
  • Räume: Kurve (Verdichtung), Vereinslokal (Deutung), Hospitality (Entlastung), Social Media (Beschleunigung).
  • Rhythmen: T‑5/T/T+5, Saisonbögen, Transferfenster – Zeit als Hebel, um Unsicherheit spürbar und ertragbar zu machen.

Mini‑Vignetten (Feldnotizen)

  • „Check in progress“: 70. Minute, Torjubel gefriert. 40 Sekunden Unschärfe – dann Entscheidung. Der Block entlädt sich, erst Pfiffe, dann Lachen. Unsicherheit wird durchlaufen (Frontiers Sports 2021).
  • Geisterspiel: Schiri pfeift Elfmeter – ganz ohne Chor. Die Leerstelle wirkt lauter als Pfiffe. Heimvorteil stirbt einen stillen Tod (CESifo 2020).
  • Wettfenster: In der Kneipe wandern die Quoten live. Einer tippt „nächstes Tor“. Nebenan zieht wer die Schal‑Fahne straffer. Zwei Ökonomien derselben Spannung (Cleland 2015).

Forschungstagebuch (02.10.2025)

Ich halte fest: Unsicherheit ist nicht nur „da“ – sie wird geplant, erlebt, umgedeutet. Für die Kodierung lege ich an: Unsicherheits‑Trigger (Regel/Technik/Preis/Sicherheit), Affektmarker (Stille, Chor, Ironie), Legitimitätsmarker (Dauer, Erklären, Konsistenz). Nächster Schritt: Sequenzprotokolle VAR/Elfmeter/Geisterspiel und Preis‑Zeit‑Profile je Heimspiel.

Leitfragen

  • Welche Formen von Unsicherheit (Ergebnis, Prozess, Umfeld, Deutung) treiben Affekte – welche lähmen? (Hughson et al. 2016)
  • Wie beeinflusst VAR die Balance aus Gerechtigkeit, Spannung und Flow? (Scelles et al. 2021; Frontiers Sports 2021)
  • Wo kippt Sicherheitsmanagement in Reaktanz – und wie lässt sich Legitimität herstellen? (Cleland 2015)
  • Wie verändern Ghost Games und Streamingrhythmen die sozialen Trägheiten des Spiels? (CESifo 2020)

Literatur (APA 7, verlinkt)


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