Teaser
Ich lese Fußballspiele als aufgeladenen sozialen, moderierten Mikrokonflikt: Rollen, Erwartungen, Autorität, Regeln – und Sanktionen. Mit Ralf Dahrendorf lässt sich zeigen, wie Konflikte nicht Störung, sondern Motor sozialer Ordnung sind. Genau deshalb knistert ein Spiel: weil Ordnung nur durch Konflikt lebendig bleibt.
Warum Dahrendorf in ein Fußballbuch?
Ich lese ein Spiel nicht als Ausnahmezustand, sondern als verdichtete Gesellschaft. In 90 Minuten treffen Rollen, Autorität, Interessen und Sanktionen auf engstem Raum zusammen – genau jene Vokabeln, mit denen Dahrendorf Gesellschaft denkt. Was mich daran reizt: Konflikte gelten hier nicht als Störung, sondern als Kraftquelle sozialer Ordnung. Ein Pfiff, ein Foul, ein VAR‑Eingriff – und plötzlich wird spürbar, wer entscheiden darf, warum und mit welchen Folgen. Diese Momente sind mein Zugang zu den Affekten: Sie zeigen, wie Ordnung gefühlt wird (Dahrendorf, 1959; 1972).
Kernideen Dahrendorfs – in mein Projekt übersetzt
Konflikt als Normalfall. Für Dahrendorf ist Konflikt konstitutiv: Ohne Gegensätze keine Ordnung. Das passt zu meinem Feld: Auch wenn das Stadion wie eine Bühne der Einheit wirkt, lebt es von Reibung – zwischen Linienrichter und Tribüne, zwischen „laufen lassen“ und „Regel ist Regel“ (Dahrendorf, 1959).
Rollen & Erwartungen. Konflikte entzünden sich an Erwartungsbrüchen. Wenn der Schiri pfeift, obwohl „man das nicht pfeift“, kollidieren normative Skripte. Ich sehe dann, wie schnell die Kurve ihre Affektlogik hochfährt – vom Murmeln zur Welle (vgl. Dahrendorf, 1972; Goffman, 1986/1967).
Autorität & Legitimität. Akzeptanz hängt an der Legitimität der Entscheidung. Eine klare Geste, kurze Erklärung, sichtbare Konsequenz – und der Pegel sinkt. Wird Legitimität bestritten (distanziertes VAR, administrative Strafen), steigt die Affekttemperatur (vgl. Dahrendorf, 1961; Goffman, 1986/1967; Rosa, 2016).
Sanktionssysteme. Regeln funktionieren nur, wenn Sanktionen sichtbar sind – Karte, Freistoß, Sperre. Zugleich entstehen Gegen‑Sanktionen von unten: Pfeifen, Banner, Ironie. Beide Seiten regieren am Affekt (vgl. Dahrendorf, 1959).
Organisation des Konflikts. Verbände und Vereine organisieren Konflikte: Ansetzung, Sicherheitskonzept, Ticketing. Ordnung ist hier gerahmter Konflikt, nicht Harmonie (vgl. Dahrendorf, 1959; Elias & Dunning, 2008/1986).
Diese fünf Punkte sind mein Raster, um Konfliktszenen systematisch zu protokollieren – und mit der Affektkette (2.2.1) sowie der 4R‑Heuristik (2.2.2) zu verschalten.
Mikrokonflikt auf dem Rasen: eine Heuristik
Auslöser. Ein Foul an der Mittellinie – minimal in der Sache, maximal in der Symbolik.
Rahmung. Regelsystem + Schiri‑Autorität + ggf. VAR als Makro‑Eingriff.
Affektkaskade. Impuls (Schrei) → Aufladung (Rudelbildung) → Rahmung (Pfiff/Karte/VAR) → Folge (Akzeptanz/Murren/Protest) (vgl. Goffman, 1986/1967; Elias & Dunning, 2008/1986).
Nachhallen. Chor, Pfeifen oder affektive Rückbindung („Weiter!“) (vgl. Rosa, 2016).
Elfmeter als Konfliktlabor
Elfmeter bündelt Dahrendorf „im Kleinen“: Der Schiri setzt Autorität, die Verteidiger protestieren (Rollen/Gegensätze), der VAR verstärkt oder entkräftet. Auf der Tribüne organisiert die Szene den Affekt: Stille beim Anlauf, Eruption beim Schuss, Rahmung durch Gesang. Misslingt die Legitimation (unverständliche Entscheidung), brechen Gegen‑Sanktionen los – Pfeifen, ironische Gesänge. Gelingt sie, kippt der Affekt schneller in Resonanz zurück (vgl. Goffman, 1986/1967; Dahrendorf, 1959; Rosa, 2016).
Von der Kurve aus gedacht: Konfliktregie
Konflikte sind nicht nur „da“ – sie werden inszeniert. Mit der 4R‑Heuristik lese ich die Kurve als Konfliktregisseurin:
- Regeln: Stadionordnung, Hausrecht, Fankodex definieren den Rahmen – aber auch Gegen‑Regeln („keine Pfiffe gegen die eigenen Jungen“).
- Rituale: Stille nach Fehlentscheidung, ironische Chants – Drosselventile für überschießende Affekte.
- Räume: Gästeblock als legitimierte Opposition, Familienblock als Pufferzone, Vereinslokal als Ablaufbecken nach dem Spiel.
- Rhythmen: Eskalation/Deeskalation in Wellen (T‑5/T/T+5) – Konflikte werden getaktet statt dem Zufall überlassen.
So wird sichtbar: Wer Konflikt rahmt, formt Gefühl – das ist Dahrendorf im Stadionalltag (vgl. Dahrendorf, 1959; Elias & Dunning, 2008/1986; Rosa, 2016).
Mini‑Vignetten (aus meinem Feldnotizbuch)
VAR‑Moment: Die Kurve hält den Atem an. Als der Bildschirm „Check complete“ zeigt, kippt der Block in kollektiven Zynismus – „Immer gegen uns!“ – und fängt sich mit einem ruhigen Chor.Innenraum vs. Kurve: Platzverweis, der Trainer fuchtelt; die Kurve kontert mit ironischem Applaus – Sanktion trifft, Gegen‑Sanktion antwortet.
Forschungstagebuch (02.10.2025)
Konflikt ist ein Seismograf (vgl. Dahrendorf, 1959). In Sequenzen von 60–90 Sekunden kann ich beobachten, wie Legitimitätsmarker (Gestik, Erklärung, Konsequenz) Affektkurven dämpfen oder anheizen. Nächster Schritt: Drei standardisierte Sequenzprotokolle (Foul, VAR, Platzverweis) mit Zeitmarken und 4R‑Mapping erstellen – plus Gegenvergleich aus dem Vereinslokal (Diskussionskonflikt am Tisch).
Ambivalenzen & Kritik
- Legitimation im Zweifel: Wenn Autorität als fern/gesteuert erlebt wird (VAR‑Zentrale, Verbandsjustiz), steigt Entfremdung (vgl. Goffman, 1986/1967).
- Kommerz‑Kopplungen: Sponsorenlogiken verschieben Konfliktregie (Eventisierung, Fan‑Entmächtigung).
- Ungleiche Sanktionen: Härtere Kontrollen treffen oft die Lautesten – Inklusionsfragen (vgl. Dahrendorf, 1959).
Leitfragen
- Wie werden Mikrokonflikte (Foul, Pfiff, VAR) affektiv gerahmt – und wann erzeugen sie Affektmüdigkeit vs. Resonanz?
- Welche Legitimitätsmarker (Schiri‑Kommunikation, Transparenz) senken Konfliktpegel?
- Wie wirken Gegen‑Sanktionen (Ironie, Chants) auf Eskalationskurven?
- Welche Rolle spielen Räume (Gästeblock, Familienblock, Vereinslokal) in der Konfliktmodulation?
Literatur (APA 7)
- Dahrendorf, R. (1959). Class and class conflict in industrial society. Stanford University Press.
- Dahrendorf, R. (1972). Homo Sociologicus. R. Oldenbourg.
- Dahrendorf, R. (1961). Gesellschaft und Freiheit. Piper.
- Elias, N., & Dunning, E. (2008/1986). Quest for excitement: Sport and leisure in the civilising process. UCD Press.
- Goffman, E. (1986/1967). Interaktionsrituale. Suhrkamp.
- Rosa, H. (2016). Resonanz. Suhrkamp.
Interne Bezüge (Projekt)
- 2.2.1 Affekte, 2.2.2 Affektkontrolle (4R), 2.2.2.3 Dissonanz, 2.2.2.4 Reaktanz.
- 1.2.4 Idealtypen (Traditionalist:innen, Vereinslokalist:innen) – Konfliktbearbeitung als Alltagspraxis.

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