2.2.2.4 Reaktanz

Teaser

Warum rebellieren Fans gegen Regeln – selbst wenn diese gut gemeint sind? Reaktanz beschreibt die psychologische Gegenreaktion auf erlebte Freiheitsbeschneidung (Brehm, 1966): Je stärker Eingriffe als willkürlich, bevormundend oder respektlos erlebt werden, desto eher entstehen Widerstand, Umgehungspraktiken und Gegenöffentlichkeit.

Hinführung: Was meine ich mit „Reaktanz“?

Jack W. Brehm (1966) versteht psychological reactance als motivationalen Zustand, der auftritt, wenn wahrgenommene Handlungsfreiheiten bedroht oder entzogen werden. Menschen versuchen dann, die bedrohte Freiheit wiederherzustellen – kognitiv, kommunikativ oder praktisch (Brehm & Brehm, 1981). Für den Fußball heißt das: Wenn Regeln „von oben“ nicht in Resonanz mit der Szene stehen, wachsen Trotz, Kreativität und Widerstand.

Typische Auslöser im Fußball

  • Sicherheits‑/Ordnungseingriffe: Pyro‑Verbote, Kollektivstrafen, Vollüberwachung (Kameras, personalisierte Tickets).
  • Stadion‑/Eventregie: Dauermusik, Light‑Shows, vordefinierte „Jubel‑Prompts“, Sponsoren‑Choreos.
  • Spielansetzungen & Preise: Montagsspiele, Kurzfrist‑Termine, dynamische Preismodelle, Away‑Kontingente.
  • Vereinsinterne Politik: Logo‑Rebrandings, Stadionnamen‑Deals, restriktive Fan‑Codes ohne Mitwirkung.

Wie Reaktanz „gemanagt“ wird (Praktiken)

  • Gegenrituale: Stillephasen, Rücken zum Spielfeld, ironische Gesänge, „Nein‑Choreos“.
  • Kreative Umgehung: „Silent Capo“, akustische Codes, Ausweichorte (Vereinslokal statt Arena).
  • Diskursive Gegenmacht: Spruchbänder, Social‑Media‑Kampagnen, Fan‑Bündnisse.
  • Compliance mit Twist: Regeln formal einhalten, aber Sinn entkräften (z. B. off‑beat Klatschen gegen Musiksteuerung).
  • Exit & Boykott: Teilweise Stadion‑Boykotte, „Kein Montagsspiel“-Proteste.

Theoriebrücke: Reaktanz, Dissonanz und Vergleich

Reaktanz verbindet sich im Feld oft mit kognitiver Dissonanz (2.2.2.3): Wer gegen Regeln rebelliert, braucht Narrative, die die eigene Treue trotz Regelbruch plausibilisieren (z. B. „Wir verteidigen Kultur, nicht Chaos“). Dazu kommt sozialer Vergleich (2.2.2.2): Andere Ligen/Vereine gelten als Freiheitsreferenz („Bei denen geht’s doch auch ohne…“).

Die 4R‑Heuristik der Affektkontrolle angewandt

  • Regeln: Formelle Vorgaben (Ordnung, Ticketing) + informelle Codes der Szene.
  • Rituale: Stille, ironische Chants, „Gegen‑Choreos“.
  • Räume: Stehblöcke (Verdichtung), Vereinslokale (Rückzugs‑/Resonanzräume), Auswärtsblöcke (Freiheitszonen).
  • Rhythmen: Getaktete Protestformen (T‑5‘ Schweigen, T „Los!“), synkopierte Klatschraster als Gegen‑Takt.

Ambivalenzen & Risiken

  • Bumerang‑Effekte: Hartes Durchregieren erzeugt mehr Reaktanz (Dillard & Shen, 2005; Steindl et al., 2015).
  • Spaltungseffekte: Szene vs. Familienblock; „laut“ vs. „leise“ Affektstile.
  • Eskalationsgefahr: Wenn Makro‑Regime dauerhaft ohne Dialog handeln, kippen Praktiken von ironisch zu aggressiv.

Mini‑Vignetten (aus meinem Feldnotizbuch)

  • Dauermusik‑Protest: 15 Minuten Schweigen, dann ein einziger Chor „Lasst uns in Ruhe“ – die Kurve setzt den Gegen‑Takt.
  • Personalisierte Tickets: Ausweichbewegung: „Wir treffen uns im Vereinslokal – hier gehört die Stimmung uns.“

Forschungstagebuch (01.10.2025)

Ich notiere: Reaktanz erklärt, warum gut gemeinte Maßnahmen scheitern, wenn sie ohne Resonanzkopplung eingeführt werden. Für die Kodierung lege ich Reaktanz‑Trigger (Sicherheit, Regie, Preise, Politik) und Reaktanz‑Praktiken (Gegenritual, Umgehung, Diskurs, Twist‑Compliance, Exit) an. Nächster Schritt: Fälle sammeln, in denen Dialog Reaktanz reduziert hat.

Leitfragen

  • Welche Regeln lösen Reaktanz aus – und wann kippt sie in produktive vs. destruktive Formen?
  • Wie wirken Dialogformate (Fanbeirat, Mitbestimmung) auf Reaktanz?
  • Wie verhalten sich Reaktanz und Affektkontrolle (2.2.2) – wann stützen, wann sabotieren sie sich?

Literatur (APA 7, mit Links)

Interne Bezüge (Projekt)

  • Verweist auf 2.2.1 Affekte (Heuristik & Kette Impuls → Aufladung → Rahmung → Folge).
  • Querverbindung zu 2.2.2.2 Sozialer Vergleich (wird verlinkt, sobald online) und 2.2.2.3 Kognitive Dissonanz (Canvas‑Entwurf; Link folgt nach Veröffentlichung).
  • Anschluss an 1.2.4.14 Vereinslokalist:innen (Ausweichräume; Link folgt nach Veröffentlichung).

Transparenz & Autorschaft

  • Konzept/Deutung & Endredaktion: Dr. Stephan Pflaum
  • Entwurf/Struktur, Literatur‑Formatierung, Linkpflege: KI‑Assistenz
  • Letzte menschliche Prüfung: 01.10.2025


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