Teaser
Warum bleiben wir Fans trotz Abstiegen, Schamgefühlen, Mitleid(en), Peinlichkeiten, verlorenen Spielen in Serie, …? Mit Kognitiver Dissonanz (Festinger, 1957) lässt sich erklären, wie wir Treue aufrechterhalten: Wir bringen unsere Gefühle, Investitionen und Handlungen so in Einklang, dass wir weitermachen – auch wenn das runde mal wieder nicht ins Eckige wollte und der Club statt drei Punkten drei Gegentore kassiert.
Hinführung: Was meine ich mit „kognitiver Dissonanz“?
Leon Festinger (1957) beschreibt kognitive Dissonanz als Spannungszustand, wenn Überzeugungen, Handlungen und Erfahrungen nicht zusammenpassen. Menschen streben nach Kohärenz: Sie wollen nicht in der Luft hängen, sondern ihre Geschichten, Affekte und Entscheidungen stimmig erleben. Deshalb versuchen wir, Dissonanz zu reduzieren – durch Reinterpretation (Umdeutung), Erinnerungsarbeit (Rahmung von Vergangenheit) oder Verhaltensanpassung (symbolische Gesten, gemeinsames Aushalten). Im Fußball bedeutet das: Wir verlieren – und sagen uns, „Wir lieben dich sowieso!“. Niederlagen werden nicht nur ertragen, sondern in Beweise für Authentizität verwandelt.
Warum das im Fußball wichtig ist
Gerade im Fußball ist Dissonanz kein Ausnahmefall, sondern Alltag. Jeder Fan will jeden Spieltag drei Punkte für seinen Verein. Fast jede Saison produziert – in der Natur der Sache liegend – Enttäuschungen: Abstieg, verpasste Aufstiege, verlorene Derbys (Der Club gibt sich hier leider oft die Ehre: Denn DFB-Pokal ist nur einmal im Jahr). Theoretisch müsste dies zu Abwanderung führen – doch empirisch zeigt sich das Gegenteil: Viele Fans binden sich noch stärker. Kognitive Dissonanz mit einer Prise Rational Choice liefert hier einen Schlüssel:
- Investitionseffekt: Zeit, Geld, Emotionen sind investiert; abbrechen hieße, diese Verluste einzugestehen. Bleiben schützt vor der bitteren Einsicht, „umsonst“ gelitten zu haben.
- Erinnerungseffekt: Negatives wird umgedeutet. Aus Abstieg wird „Abenteuer“, aus Schmach „unvergessliche Geschichte“.
- Gemeinschaftseffekt: Wer aussteigt, verlässt nicht nur einen Verein, sondern eine soziale Welt. In der Gruppe verringert sich Dissonanz: Alle bleiben, also bleibe ich auch.
- Leidenschaftseffekt: Leiden wird zum ultimativen Beweis: „Nur wer bleibt, ist wahrer Fan.“ Niederlage und Treue werden logisch verknüpft.
Praktiken der Dissonanzreduktion
Dissonanz wird nicht nur kognitiv, sondern praktisch bearbeitet. Fans haben vielfältige Techniken entwickelt, Spannungen auszubalancieren:
- Narrative:
„Gerade weil wir abgestiegen sind, ist unsere Treue wertvoll.“ - Humor & Ironie: Spottlieder, Memes, Selbstironie als Ventil, die Schmerz in Lachen verwandeln.
- Symbolische Umcodierung: Schals hoch, Banner „Rekordaufsteiger“ – Gesten, die den Bruch überdecken.
- Vergleichsrahmen: „Andere Vereine sind auch abgestiegen – wir stehen’s durch.“
- Zukunftsprojektion: Hoffnung als Ressource: „Mission Wiederaufstieg“
Mini‑Vignetten (aus meinem Feldnotizbuch)
Interview mit Fan (m, 42): „Wenn wir abgestiegen sind, hab ich gesagt: Genau deshalb bleib ich. Sonst wär’s doch zu einfach.“ Hier wird Leiden zur Legitimation umcodiert.Kneipengespräch nach Relegation: Einer lacht: „Wenigstens wissen wir jetzt wieder, wo Aue liegt!“ – Dissonanz wird in Humor transformiert und Zugehörigkeit gestärkt.
Vertiefung: Warum das mehr ist als Psychologie
Für mich ist kognitive Dissonanz mehr als ein psychologischer Trick: Sie ist – gerade für den Cluberer – gelebte sozialpsychologische Praxis, die meine und kollektive Affekte strukturiert. In der Kurve, im Vereinslokal, auf Social Media: Überall werden Dissonanzen erzählerisch, performativ und symbolisch „eingefangen“. Damit erklärt sich, warum Fanszenen so resilient sind: Statt an Niederlagen zu zerbrechen, bauen sie daraus Kraftquellen. Dissonanz ist nicht das Ende der Bindung – sie ist oft ihr Motor. Gerade in dieser Umcodierung wird sichtbar, wie Affekte, Kontrolle und Resonanz ineinandergreifen (vgl. Elias & Dunning, 2008/1986; Rosa, 2016).
Leiden bewusst inszenieren: Coping durch Selbstironie und Humor
Ein wichtiger Aspekt ist das bewusste Inszenieren von Leiden als Coping‑Strategie. Fans machen aus Schmerz ein gemeinsames Schauspiel: Sie überhöhen die Katastrophe (Der Club is a Depp!), singen ironische Lieder oder karikieren ihre Niederlage (Berlin, Berlin, wir sch… auf Berlin, gehört am 28.09.2025 im Stream aus der Nordkurve). Diese Selbstironisierung dient nicht nur dem Lachen, sondern der kollektiven Entlastung: Man nimmt das Leid ernst, aber nicht so ernst, dass es lähmt. Hier zeigt sich eine Brücke zu Georg Simmel: Humor als soziale Technik, die Distanz schafft, ohne die Bindung zu zerstören. In der Dissonanzbearbeitung ist Humor damit kein Beiwerk, sondern eine Kernressource.
Forschungstagebuch (01.10.2025)
Ich notiere: Kognitive Dissonanz erklärt, warum negative Ereignisse nicht zum Abbruch führen, sondern oft zur Verstärkung der Bindung. Für meine Kodierung lege ich die Kategorie Dissonanzreduktion an mit Subcodes Narrativ, Humor, Symbol, Vergleich, Projektion. Nächster Schritt: systematisch Interviewstellen sammeln, in denen Abstieg/Niederlage in Treueformeln umgedeutet wird – und prüfen, wo Dissonanz auch kippen kann (Zynismus, Rückzug).
Leitfragen
- Wie rahmen Fans Niederlagen so, dass sie Zugehörigkeit stärken statt schwächen?
- Welche Rolle spielen Humor und Ironie in der Dissonanzreduktion?
- Wann kippt Dissonanzreduktion in Zynismus oder gar Ausstieg?
- Wie unterscheiden sich Generationen (Jugendliche vs. Ältere) in der Bearbeitung von Dissonanz?
Literatur (APA 7, mit Links)
- Festinger, L. (1957). A theory of cognitive dissonance. Stanford University Press.
- Harmon‑Jones, E., & Mills, J. (Eds.). (2019). Cognitive dissonance: Reexamining a pivotal theory in psychology. American Psychological Association.
- Tavris, C., & Aronson, E. (2020). Mistakes were made (but not by me): Why we justify foolish beliefs, bad decisions, and hurtful acts. Mariner Books.
- Elias, N., & Dunning, E. (2008/1986). Quest for excitement: Sport and leisure in the civilising process. UCD Press.
- Rosa, H. (2016). Resonanz. Suhrkamp.
Interne Bezüge (Projekt)
- Anschluss an 2.2.2 (Sozial‑psychologische Grundlagen).
- Ergänzt 2.2.1 Affekte und 2.2.2 Affektkontrolle – Dissonanz als Affektregulation.
- Verbindung zu 1.2.4 Idealtypen: Traditionalist:innen (Treue trotz Schmerz), Vereinslokalist:innen (Ortsbindung als Puffer).

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