Teaser
Ich unterscheide Affektkontrolle von Gefühlsunterdrückung: Sie ist ein soziales Arrangementsystem, das bestimmt, wie wir im Fußball fühlen und uns ausdrücken dürfen – zwischen Stadionordnungen, Capo-Handzeichen, Hausregeln im Vereinslokal und der eigenen Aggressionshemmung im Kopf. Zwischen Regelwerk und Entgrenzung entsteht die Dynamik der Kurve, die sich auf alle Geraden und Gegengeraden überträgt.
Hinführung: Was meine ich mit „Affektkontrolle“?
Mit Affektkontrolle meine ich Praktiken, Regeln und Selbsttechniken, die Affekte rahmen, dosieren, umlenken und/oder unterdrücken. Sie sind nicht nur repressiv; oft ermöglichen sie erst Resonanz (Rosa, 2016), weil sie eine affektive Überforderung des personalen und der beteiligten sozialen Systeme verhindern. Theoretisch lese ich das als Kopplung aus Zivilisierung (Elias & Dunning, 2008/1986), Interaktionsordnung (Goffman, 1986/1967), Ritualketten (Collins, 2004) und Disziplinartechniken (Foucault, 1977/1976). Affektkontrolle ist damit verkörpert, räumlich und zeitlich – und sie ist umkämpft.
Landkarte der Kontrolle: Mikro, Meso, Makro
- Mikro (Selbst-/Peer‑Regulation): Atem, Rhythmus, Hüpfen, Singen, Texte,…
- Meso (Szenelogik): Capo, Zauncrew, Trommeln, Fan‑Codes.
- Makro (Institutionen): Stadionordnungen, Verbandsrecht, Sicherheit/Polizei, Ticketing, Einlass‑Tech, Kameras.
These: Resonanz entsteht, wenn Mikro‑ und Mesokontrollen genug Spielraum gegen Makro‑Regime behaupten. Zu viel Makro → Affektmüdigkeit. Zu wenig → Entgrenzung (Überlastung, Eskalation).
Praktiken zwischen Regelwerk und Entgrenzung
- Zeitschnitt‑Kontrolle: Stille vor Anpfiff; kollektiver Reset nach Gegentor oder VAR Eingriff; Rausatmen statt Pfeifen.
- Körper‑Choreografie: Call‑and‑Response, Klatschraster, „Schals hoch“ als Drosselventil.
- Objekt‑Kontrolle: Banner/Hinweise („Kein Bier an Minderjährige“), Trommelpausen, „Nur Gesänge – kein Gejohle“.
- Räumliche Steuerung: Stehplatz als Verdichter, Familienblock als Puffer, Vereinslokal als Ablaufbecken (Affekt‑Abschlussrituale).
- Digitale Steuerung: App‑Pushs, Musiksteuerung, Licht – kuratierte Affektkurven („Pre‑Show“ vs. Fankultur von unten).
Ambivalenzen & Konfliktlinien
- Regeln vs. Resonanz: Sicherheitslogiken
(Pyro‑Verbote, Kontingente) können Schutz oder Entkernung bedeuten. - Disziplin vs. Würde: Disziplinartechniken ordnen – können aber Demütigung produzieren (Foucault).
- Gatekeeping: Lautstärke‑Normen, Männlichkeitscodes; alternative Affektstile (leise, ironisch, care‑orientiert) werden unterbewertet (Ahmed; Wetherell).
- Kommerzialisierung: Affekte als Produkt (Pre‑Show) vs. Praxis (Rituale von unten).
- Alkoholnormen: Geselligkeit vs. Risiko (Vereinslokal – s. 1.2.4.14, kritische Würdigung).
Heuristik: Die „4R“ der Affektkontrolle
R1 Regeln (formell/informell) → R2 Rituale (wiederholte Muster) → R3 Räume (Zonen/Puffer) → R4 Rhythmen (Taktgeber).
Ich nutze die 4R, um Beobachtungen zu ordnen und Entgrenzungen (Überschwinger) sauber zu markieren.
Nice: 4R ist eine Erfindung der KI
Mini‑Vignetten (aus meinem Feldnotizbuch)
T‑2‘ Anpfiff: Capo hebt beide Hände – der Block fällt in Ruhe. Ich atme mit. Das ist nicht Unterdrückung, das ist Halten.T+1‘ Gegentor: Zwei Trommelschläge, dann „Weiter!“ – das Pfeifen verpufft. Kontrolle als Brücke zur Resonanz.
Forschungstagebuch (30.09.2025)
Heute merke ich, wie sehr Zeitmarker wirken: T‑2‘, T, T+2‘ reichen oft, um Affekte zu kanalisieren. Zugleich sehe ich Bruchstellen: Wenn Makro‑Regeln gegen Mikro/Meso laufen, kippt die Stimmung in Zynismus oder Aggression. Memo: In Mapping‑Protokollen konsequent 4R mitführen; Makro‑Eingriffe (Musik, Licht, Einlass) separat protokollieren.
Operationalisierung im Projekt (Kodierlogik)
- Offen: Affektträger (Objekt/Ort), Techniken (Rhythmus, Stille), Regeln (formell/informell), Räume (Zonen), Folgen (Zugehörigkeit, Rückzug, Eskalation).
- Axial: Affektäußerung ↔ Kontrolle ↔ Widerstand; Regelwerk ↔ Entgrenzung; Makro ↔ Meso/Mikro.
- Selektiv: Regulierte Resonanz, Zivilisierte Entgrenzung (spielerische Eskalation), Affektmüdigkeit.
Leitfragen für die Grounded Theory
- Wo erzeugen 4R tragfähige Affektketten – und wo brechen sie?
- Wie balancieren Szenen Disziplin und Würde gegenüber Fans/Spieler:innen?
- Wann kippt Sicherheitslogik in Entkernung – und welche Gegenpraktiken entstehen?
- Welche Gender/Queer‑Taktiken setzen leise Affektstile gegen Lautheitsnormen durch?
Literatur
- Foucault, M. (1977/1976). Überwachen und Strafen. Suhrkamp.
- Goffman, E. (1986/1967). Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Suhrkamp.
- Collins, R. (2004). Interaction Ritual Chains. Princeton University Press.
- Elias, N., & Dunning, E. (2008/1986). Quest for Excitement: Sport and Leisure in the Civilising Process. UCD Press.
- Hochschild, A. R. (1983). The Managed Heart: Commercialization of Human Feeling. University of California Press.
- Ahmed, S. (2004). The Cultural Politics of Emotion. Edinburgh University Press.
- Wetherell, M. (2012). Affect and Emotion: A New Social Science Understanding. SAGE.
Interne Bezüge (Projekt)
- Anschluss an 2.2.1 Affekte (Heuristik „Impuls → Aufladung → Rahmung → Folge“).
- Querbezüge: Traditionalist:innen (1.2.4.12), Amateurspieler:innen (1.2.4.13), Vereinslokalist:innen (1.2.4.14).

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