Kapitel 2.2.2 Affektkontrolle – Zwischen Regelwerk und Entgrenzung

Teaser

Ich unterscheide Affektkontrolle von Gefühlsunterdrückung: Sie ist ein soziales Arrangementsystem, das bestimmt, wie wir im Fußball fühlen und uns ausdrücken dürfen – zwischen Stadionordnungen, Capo-Handzeichen, Hausregeln im Vereinslokal und der eigenen Aggressionshemmung im Kopf. Zwischen Regelwerk und Entgrenzung entsteht die Dynamik der Kurve, die sich auf alle Geraden und Gegengeraden überträgt.

Hinführung: Was meine ich mit „Affektkontrolle“?

Mit Affektkontrolle meine ich Praktiken, Regeln und Selbsttechniken, die Affekte rahmen, dosieren, umlenken und/oder unterdrücken. Sie sind nicht nur repressiv; oft ermöglichen sie erst Resonanz (Rosa, 2016), weil sie eine affektive Überforderung des personalen und der beteiligten sozialen Systeme verhindern. Theoretisch lese ich das als Kopplung aus Zivilisierung (Elias & Dunning, 2008/1986), Interaktionsordnung (Goffman, 1986/1967), Ritualketten (Collins, 2004) und Disziplinartechniken (Foucault, 1977/1976). Affektkontrolle ist damit verkörpert, räumlich und zeitlich – und sie ist umkämpft.

Landkarte der Kontrolle: Mikro, Meso, Makro

  • Mikro (Selbst-/Peer‑Regulation): Atem, Rhythmus, Hüpfen, Singen, Texte,…
  • Meso (Szenelogik): Capo, Zauncrew, Trommeln, Fan‑Codes.
  • Makro (Institutionen): Stadionordnungen, Verbandsrecht, Sicherheit/Polizei, Ticketing, Einlass‑Tech, Kameras.

These: Resonanz entsteht, wenn Mikro‑ und Mesokontrollen genug Spielraum gegen Makro‑Regime behaupten. Zu viel Makro → Affektmüdigkeit. Zu wenig → Entgrenzung (Überlastung, Eskalation).

Praktiken zwischen Regelwerk und Entgrenzung

  • Zeitschnitt‑Kontrolle: Stille vor Anpfiff; kollektiver Reset nach Gegentor oder VAR Eingriff; Rausatmen statt Pfeifen.
  • Körper‑Choreografie: Call‑and‑Response, Klatschraster, „Schals hoch“ als Drosselventil.
  • Objekt‑Kontrolle: Banner/Hinweise („Kein Bier an Minderjährige“), Trommelpausen, „Nur Gesänge – kein Gejohle“.
  • Räumliche Steuerung: Stehplatz als Verdichter, Familienblock als Puffer, Vereinslokal als Ablaufbecken (Affekt‑Abschlussrituale).
  • Digitale Steuerung: App‑Pushs, Musiksteuerung, Licht – kuratierte Affektkurven („Pre‑Show“ vs. Fankultur von unten).

Ambivalenzen & Konfliktlinien

  • Regeln vs. Resonanz: Sicherheitslogiken
    (Pyro‑Verbote, Kontingente) können Schutz oder Entkernung bedeuten.
  • Disziplin vs. Würde: Disziplinartechniken ordnen – können aber Demütigung produzieren (Foucault).
  • Gatekeeping: Lautstärke‑Normen, Männlichkeitscodes; alternative Affektstile (leise, ironisch, care‑orientiert) werden unterbewertet (Ahmed; Wetherell).
  • Kommerzialisierung: Affekte als Produkt (Pre‑Show) vs. Praxis (Rituale von unten).
  • Alkoholnormen: Geselligkeit vs. Risiko (Vereinslokal – s. 1.2.4.14, kritische Würdigung).

Heuristik: Die „4R“ der Affektkontrolle

R1 Regeln (formell/informell) → R2 Rituale (wiederholte Muster) → R3 Räume (Zonen/Puffer) → R4 Rhythmen (Taktgeber).
Ich nutze die 4R, um Beobachtungen zu ordnen und Entgrenzungen (Überschwinger) sauber zu markieren.

Nice: 4R ist eine Erfindung der KI

Mini‑Vignetten (aus meinem Feldnotizbuch)

  • T‑2‘ Anpfiff: Capo hebt beide Hände – der Block fällt in Ruhe. Ich atme mit. Das ist nicht Unterdrückung, das ist Halten.
  • T+1‘ Gegentor: Zwei Trommelschläge, dann „Weiter!“ – das Pfeifen verpufft. Kontrolle als Brücke zur Resonanz.

Forschungstagebuch (30.09.2025)

Heute merke ich, wie sehr Zeitmarker wirken: T‑2‘, T, T+2‘ reichen oft, um Affekte zu kanalisieren. Zugleich sehe ich Bruchstellen: Wenn Makro‑Regeln gegen Mikro/Meso laufen, kippt die Stimmung in Zynismus oder Aggression. Memo: In Mapping‑Protokollen konsequent 4R mitführen; Makro‑Eingriffe (Musik, Licht, Einlass) separat protokollieren.

Operationalisierung im Projekt (Kodierlogik)

  • Offen: Affektträger (Objekt/Ort), Techniken (Rhythmus, Stille), Regeln (formell/informell), Räume (Zonen), Folgen (Zugehörigkeit, Rückzug, Eskalation).
  • Axial: Affektäußerung ↔ Kontrolle ↔ Widerstand; Regelwerk ↔ Entgrenzung; Makro ↔ Meso/Mikro.
  • Selektiv: Regulierte Resonanz, Zivilisierte Entgrenzung (spielerische Eskalation), Affektmüdigkeit.

Leitfragen für die Grounded Theory

  • Wo erzeugen 4R tragfähige Affektketten – und wo brechen sie?
  • Wie balancieren Szenen Disziplin und Würde gegenüber Fans/Spieler:innen?
  • Wann kippt Sicherheitslogik in Entkernung – und welche Gegenpraktiken entstehen?
  • Welche Gender/Queer‑Taktiken setzen leise Affektstile gegen Lautheitsnormen durch?

Literatur

Interne Bezüge (Projekt)

  • Anschluss an 2.2.1 Affekte (Heuristik „Impuls → Aufladung → Rahmung → Folge“).
  • Querbezüge: Traditionalist:innen (1.2.4.12), Amateurspieler:innen (1.2.4.13), Vereinslokalist:innen (1.2.4.14).


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