2.2.1 Affekte – „Egal, Was Auch Immer Passiert…

…wir lieben Dich sowieso!“

Teaser

Ich nehme das Bonmot „Egal, was auch immer passiert, wir lieben dich sowieso“ zum Ausgangspunkt, um Affekte im Fußball zu fassen: nicht als bloße Gefühle, sondern als Beziehungsenergie, die Körper, Räume und Praktiken verbindet – und die Zugehörigkeit auch im Schmerz stabilisiert.

Hinführung: Was meine ich mit „Affekten“?

Wenn ich im Projekt von Affekten spreche, meine ich körperlich‑relationale Antriebe, die zwischen Menschen zirkulieren (Brennan, 2004), sich in Ritualen verdichten (Collins, 2004) und in sozialen Praktiken erlernt werden (Scheer, 2012). Affekte sind nicht einfach privat; sie werden gemacht – durch Choreos, Gesänge, Blicke, Wege, Regeln. Emotion nenne ich die begrifflich gerahmte, erzählte Seite davon (Ahmed, 2004; Wetherell, 2012). Für den Fußball ist wichtig: Affekte binden (Rosa, 2016) und werden zugleich kontrolliert (Elias & Dunning, 2008/1986).

Thesen

  • T1: Affekte sind Infrastruktur. Sie halten Szenen zusammen – wie Wege, Kassen und Sitzordnungen. Ohne affektive „Träger“ bricht Gemeinschaft auseinander.
  • T2: Leiden ist produktiv. Niederlagen sind nicht nur Misserfolg, sondern Rohstoff für Zugehörigkeit („trotzdem“) – eine zivilisatorisch erlernte Affektregulation (Elias & Dunning, 2008/1986).
  • T3: Affekte sind umkämpft. Sie werden reguliert (Sicherheit, Ticketing, Stadiontechnik) und politisiert (Gegenöffentlichkeiten). Wer Affekte rahmt, verfügt über Deutungshoheit.

Heuristik: Vom Impuls zur Rahmung

Affekte lassen sich entlang einer Kette abbilden:
Impuls (Körper/Atmosphäre)Aufladung (Ritual/Rhythmus)Rahmung (Erzählung/Norm)Folge (Handlung/Zugehörigkeit).
Entlang dieser Kette bieten sich folgende empirische Marker an: Laut‑/Leisemomente, Chants, Banner, Gesten, Stille, Wege, Mikro‑Regeln (z. B. „Schals hoch“), Posts/Chats.

Mikrologik der Kurve: Wie „trotzdem“ entsteht

Trotzdem“ entsteht, wenn Affektkontrolle (Elias & Dunning) und Resonanz (Rosa) zusammenkommen: Das Abfedern der Enttäuschung (Kontrolle) trifft auf das Gefühl, gehört und getragen zu werden (Resonanz). Aus dieser Kopplung entsteht Treue jenseits des Ergebnisses.

Praktiken, die „trotzdem“ erzeugen

  • Ritualisierte Wiederholung: Hymne, Einlaufen, Schals, feste Wege (Traditionalist:innen 1.2.4.12).
  • Choreografierte Körper: Klatschrhythmen, Call‑and‑Response, Stille‑Passagen (Interaktionsrituale; Collins, 2004).
  • Affekt‑Objekte: Schals, Banner, Sitzpolster; Dinge speichern kollektive Erinnerung (Assmann, 1999).
  • Erzählrahmen: „Wir bleiben“, „Wir kommen wieder“ – Narrative, die Leiden umcodieren (Ahmed, 2004).
  • Dritte Orte: Vereinslokal, Eckkneipe, Weg zum Bahnhof (Vereinslokalist:innen 1.2.4.14) – Affekte werden zwischen Stadion und Alltag gepflegt.

Ambivalenzen & Konfliktlinien

  • Regulierte Resonanz: Pyro, Stehplätze, Gästekontingente – Spannung zwischen Sicherheitslogik und affektiver Verdichtung.
  • Affekt‑Gatekeeping: „Echter Fan“-Rhetoriken; Homogenisierung von Lautstärke/Gestus; Ausschluss leiserer, anderer Affektformen.
  • Gender & Queerness: Affekterwartungen als Männlichkeitscodes; alternative Affektstile (Humor, Ironie, Care) als Gegenpraktiken (Cleland, 2015; Kian et al., 2013).
  • Ökonomie der Gefühle: Kommerzialisierung kuratiert Affekt (Pre‑Show, Musiksteuerung). Gefahr: Affekt als Produkt statt Praxis.

Operationalisierung im Projekt (Kodierlogik)

Ich kodiere in offenen Codes Affektträger (Ritual, Objekt, Ort), Affekttechniken (Rhythmus, Call‑and‑Response, Stille, Ironie), Affektregeln (Hausordnung, Fan‑Code), Affektfolgen (Zugehörigkeit, Protest, Rückzug).
Axial ordne ich entlang der Achsen: Affektäußerung ↔ Kontrolle ↔ Widerstand; Leiden ↔ Resonanz; Lokal ↔ Global (Polyamorie).
Selektiv frage ich nach Kernkategorien: Affektive Ökonomie, Resonanzketten, Regulierte Resonanz.

Mini‑Vignetten (aus meinem Feldnotizbuch)

  • Minute, Rückstand. Erst grollt die Kurve, dann fährt eine Stille durch den Block. Auf ihr wächst ein ruhiger Chor. Ich spüre, wie sich Schultern senken – und der Körper wieder andockt.
  • Nach Abpfiff: Kein Pfeifkonzert. Schals hoch, zwei tiefe Atemzüge, Rückbindung – und dann der Gang in den Alltag. Der Affekt verpufft nicht, er landet.

Forschungstagebuch (30.09.2025)

Ich halte fest: „Trotzdem“ ist kein moralischer Imperativ, sondern ein Affektarrangement. Es entsteht aus wiederholten Praktiken, die Enttäuschung sozial binden. Für die nächsten Wochen plane ich feine Zeitmarker (T‑5/T/T+5 Minuten) im Stadion, um die Affektkurve zu mappen, plus Auswertung von Chat‑Verläufen (anonymisiert) auf Affektwörter („trotzdem“, „weiter“, „wir“).

Leitfragen für die Grounded Theory

  • Welche Praktiken erzeugen im Detail die Kopplung von Kontrolle und Resonanz?
  • Wie werden Affektstile (leise/laut, humorvoll/ernst) sozial bewertet – wer setzt Normen?
  • Wie verändern Gender/Queer‑Praktiken affektive (Ent-)Ladungen in der Kurve?
  • Wodurch kippt affektive Verdichtung in Affektmüdigkeit – und wie wird gegengesteuert?

Literatur

Interne Bezüge

  • Idealtypen: Traditionalist:innen (1.2.4.12), Amateurspieler:innen (1.2.4.13), Vereinslokalist:innen (1.2.4.14) – als affektive Praktiker:innen.
  • Theorie: Affektkontrolle (Elias & Dunning), Resonanz (Rosa), Interaktionsrituale (Collins), Emotionspolitik (Ahmed).
  • Methode: Zeitmarker‑Beobachtungen; Sensorische Ethnografie; Chat‑/Artefakt‑Analyse (anonymisiert).

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