1.2.4.14 Vereinslokalist:innen

Teaser

Vereinslokalist:innen – Menschen, deren Fußballliebe durch Orte lebt: Vereinsheim, Eckkneipe, Stehplatz vor Blockeingang, Bäcker auf dem Heimweg. Hier entsteht Zugehörigkeit nicht im Stadion allein, sondern im Gefüge von Dritten Orten, Nachbarschaften und Wegen.

Hinführung: Was meine ich mit „Vereinslokalist:innen“?

Mit Vereinslokalist:innen bezeichne ich Fans, die den Verein über konkrete Orte verankern: das Vereinslokal, die Stammkneipe, den Fanraum im Jugendhaus, den Imbiss gegenüber – Orte mit Wiederkehr, Regeln und Gesichtern. Diese Figur grenzt sich ab von Tourist:innen (Groundhopping) und schneidet sich mit Traditionalist:innen (1.2.4.12), bleibt aber eigen: Nicht das Ritual im Stadion, sondern die Alltagsräume davor und danach sind das Zentrum (vgl. Oldenburg, 2023; Putnam, 2000).

Worum es wirklich geht

Dritte Orte & Mikropublika

Das Vereinslokal ist mehr als Ausschank: Es ordnet Gespräche, solidarische Hilfe („Wer fährt?“), Rollen (Kapo, Chronist:in, Tresen‑Scout), Mikro‑Regeln (wer sitzt wo, wer zahlt die erste Runde) und bildet eine öffentliche Intimität. Hier lerne ich: Vertrautheit entsteht aus Wiederholung (vgl. Oldenburg, 2023).

Place Attachment & Atmosphären

Geruch von Holz, klebriger Boden, verblichene Wimpel: Solche Sinnesmarker erzeugen place attachment, also emotionale Bindung an Ort‑Praxis‑Konstellationen. Atmosphäre ist nicht „Deko“, sondern Affektökonomie – sie bündelt Erinnerung und Verhalten (vgl. Low & Altman, 1992; Pink, 2015; Relph, 1976/2008).

Soziales Kapital & Nachbarschaft

Vereinslokale stiften soziales Kapital: Man kennt „jemanden, der jemanden kennt“, Jobs wechseln über Theken, Auswärtsfahrten werden finanziert. Es ist bonding (dicht, vertraut) – und kann bridging sein (offene Türen für Neue) (vgl. Putnam, 2000). Die Grenze: Gatekeeping („Unser Tisch“), Codes von Männlichkeit und Humor.

Gentrifizierung & Verdrängung

Mietsteigerungen, Umnutzungen, striktere Auflagen (Lärm, Sperrzeit) gefährden Vereinsorte. Wenn das Lokal schließt, reißt eine Kette: Kein Treffpunkt → weniger Fahrgemeinschaften → weniger Auswärtsmobilität. Ortsverlust ist Affektverlust (vgl. Massey, 2005; Harvey, 2008).

Gender & Queerness im Vereinslokal

Die Kneipe kann Schutzraum und Hürde gleichermaßen sein: sichere Nischen und Verbündete – aber auch Sprüche, Blicke, Dresscodes. Ich beobachte Situationskompetenz: mit Witz ablenken, Verbündete suchen, klare Grenzen setzen. Aufgabe: weiche Häute sichtbar machen und Räume aktiv öffnen.

Governance von unten

Vereinslokalist:innen halten Orte am Laufen: Kuchenliste, Thekendienst, Spendenbox, Buscharter, „Karte an der Theke“. Governance ist alltägliche Aushandlung – weniger „Clubpolitik von oben“, mehr Selbstverwaltung im Kleinen.

Kritische Würdigung: Alkohol als soziale Norm – Fluchtweg & Risiko

Ich sehe die Ambivalenz der Vereinslokale besonders deutlich beim Thema Alkohol: Einerseits ermöglicht das gemeinsame Trinken Entlastung nach Arbeit und Spiel, öffnet Zunge und Herzen, schafft Geselligkeit. Andererseits normalisiert es eine Praxis, die einzelne überfordert, ausschließt oder gefährdet. Kurz: Fluchtweg im guten wie im schlechten Sinn.

  • Normalisierung & Gruppendruck: „Ein Bier gehört dazu“ wird zur unausgesprochenen Eintrittskarte; wer ablehnt, muss begründen.
  • Ökonomie & Abhängigkeit: Thekenumsatz finanziert Busse, Nachwuchs und Fanprojekte – zugleich erzeugt das ökonomische Anreize, nüchterne Alternativen unsichtbar zu halten.
  • Gesundheit & Inklusion: Nüchterne/genesene Fans, Minderjährige und Menschen in Schichtarbeit werden durch Alkoholzentrierung leicht marginalisiert; Alternativen (alkoholfrei, kostenfreies Wasser) sollten sichtbar und selbstverständlich sein.
  • Geschlecht & Sicherheit: Erhöhte Pegel korrelieren mit Grenzverletzungen; Frauen* und queere Fans berichten häufiger von belästigenden Situationen. Klare Hausregeln und ansprechbare Verbündete helfen.
  • Ambivalenz des Fluchtwegs: Zwischen legitimer Erholung und Vermeidung; alkoholgestütztes Stimmungsmanagement stabilisiert kurzfristig, kann aber Probleme verschieben.

Memo: Ich prüfe in Beobachtungen bewusst Sichtbarkeit alkoholfreier Angebote, Hausregeln (Jugendschutz, „kein Bier an Minderjährige“), Deeskalationskompetenz am Tresen und sober corners (bewusst alkoholfreie Bereiche/Events).

Konfliktlinien (kurz)

  • Kommerzialisierung vs. Lokalatmung: Ketten‑Sportsbars verdrängen Wirt:innenkultur.
  • Digital vs. analog: Streaming zuhause vs. gemeinsames Schauen im Lokal; WhatsApp‑Gruppen organisieren den analogen Raum – oder ersetzen ihn.
  • Inklusion vs. Gatekeeping: Wer darf „reinreden“? Wer bekommt den guten Tisch?
  • Alkoholnorm vs. Prävention & Inklusion: Zwischen geselligem Trinken, Thekenökonomie und Risiken (Gruppendruck, Ausschluss nüchterner/genesener Fans, Jugendschutz).

Mini‑Vignetten (aus meinem Feldnotizbuch)

  • 14:30 Uhr, Heimspiel: „Schlüssel?“ – „Hängt hinterm Tresen.“ Drei Hände greifen zum Kassenbuch, einer zum Wimpel, zwei zum Kuchenmesser. Um 14:50 ist alles fertig.
  • Mittwochabend, Pokal: Die Wirtin klingelt mit der Glocke. „Bus voll? Wer hat noch zwei Plätze?“ Zwei Arme gehen hoch, ein Nicken – Problem gelöst.

Forschungstagebuch (29.09.2025)

Ich merke, wie sehr Orte Affekte bündeln. Wenn mich Ergebnisse nerven, erdet mich der Gang zum Vereinslokal. Memo: Vereinslokalismus ist Platz‑gebundene Affektregulation – und Reproduktionsarbeit der Fankultur. Nächster Schritt: Sensorische Ethnografie im Lokal (Licht, Geräusch, Geruch), Sitzordnungen kartieren, Ein‑/Ausschlusspraktiken erfassen; Vergleich mit Amateurspieler:innen (1.2.4.13): Wie greifen Kabine und Kneipe ineinander?

Leitfragen für die Grounded Theory

  • Wie funktionieren Dritte Orte als Affekt‑ und Governance‑Maschinen der Fankultur?
  • Welche Sinnesmarker (Gerüche, Texturen, Geräusche) signalisieren Zugehörigkeit – und wem?
  • Wo kippt bonding in Gatekeeping – und welche bridging‑Praktiken öffnen Räume?
  • Wie wirken Gentrifizierung und Regulierungen auf Fan‑Infrastrukturen (Öffnungszeiten, Lärmschutz, Umnutzung)?
  • Welche Gender/Queer‑Taktiken sichern Handlungsfähigkeit im Lokalalltag?

Empirische Anknüpfung (Arbeitsplan)

  • Beobachtung: Matchday‑Zyklen im Vereinslokal (T‑2h/T/T+2h), Sitz‑/Steh‑Topografien, Routinen der Theke.
  • Interviews: Wirt:innen, Orga‑Kerne, Neuzugänge, Frauen*/queere Fans, „Zaungäste“ (selten im Stadion, oft im Lokal).
  • Artefakte: Schwarzes Brett, Kassenbuch, Buslisten, Thekenregeln, Fotos/Wimpel.
  • Kontrastfälle: Ketten‑Sportsbar vs. Vereinsheim; Digital‑Watchparty vs. Kneipe.

Literatur (APA 7 + Links)

Interne Bezüge (Projekt)

  • Idealtypen: Anschluss an 1.2.4.12 Traditionalist:innen und 1.2.4.13 Amateurspieler:innen (Kabine ↔ Kneipe), Kontrast zu Tourist:innen.
  • Theorie: Dritte Orte, Place Attachment, Soziales Kapital, Gentrifizierung, Affektökonomien.
  • Methode: Sensorische Ethnografie; Mapping; Interviews mit Wirt:innen/Organisator:innen.


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