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Ich schreibe heute über die Traditionalist:innen – jene Fans, für die der Verein Heimat ist, Familiengeschichte und gelebtes Gedächtnis. Sie halten aus, wenn es weh tut, und bestehen darauf, dass Zugehörigkeit nicht verhandelbar ist. Was viele als nostalgisch abtun, erlebe ich als eine kraftvolle Ressource: Rituale, die tragen, wenn Siege ausbleiben.
Hinführung: Was meine ich mit „Traditionalist:innen“?
Als Traditionalist:innen bezeichne ich Fans, die ihre Bindung an den Verein als intergenerationale Verpflichtung verstehen. „Vererbt“ von Eltern oder Großeltern, gepflegt über Vereinslieder, Stadionwege, Stehplatzrituale – als Formen eines kulturellen Gedächtnisses (Assmann, 1999). Anders als „Liebeskranke“ (affektiv überhitzt) oder „Erfolgsfans“ (pragmatisch‑ergebnisorientiert) definieren Traditionalist:innen Treue primär über Kontinuität und Erinnerung. Ich fasse diese Figur als heuristischen Idealtypus, um empirische Varianten vergleichbar zu machen (Weber, 1980/1922).
Ich bin damit nicht „neutral“: Das Auf und Ab des FCN prägt meine eigene Fanbiografie – und genau dort erlebe ich die Stärke dieser Haltung.
Worum es wirklich geht
Herkunft & Erbe
Tradition ist kein starres Museum, sondern eine lebendige Erzählung:
- Wer mich zum Verein gebracht hat (oft Vater/Mutter/Großeltern)
- Welche Geschichten weitergegeben werden („Als wir noch im alten Stadion standen …“)
- Welche Lieder, Wege, Orte dazugehören (Vereinshymne, Weg zur Kneipe, Blockkultur)
Diese Praktiken aktualisieren „Tradition“ als kulturelles Gedächtnis in Dingen, Erzählungen und Routinen (Assmann, 1999)
Rituale & Räume
Traditionalist:innen halten an Formen fest, weil die Formen sie halten: Einlaufen zur Hymne, Schals hoch, bestimmte Plätze im Block. Diese Routinen sind soziale Anker – besonders in Krisen. Nostalgie kann dabei als reflektierte Ressource wirken, die Gegenwart orientiert, statt sie zu verklären (Boym, 2001).
Affekte & Affektkontrolle
Leiden wird nicht verdrängt, sondern gerahmt: Trauerminute, ironischer Gesang, „Was-auch-passiert“-Choreos. So wird Schmerz in Zugehörigkeit verwandelt. Für mich ist das die eigentliche Kunst dieser Fanfigur: aus Niederlagen Bindung zu machen. Sozialhistorisch lässt sich das als erlernte Affektregulation der Stadionkultur beschreiben (Elias & Dunning, 2008/1986), die Resonanzbeziehungen stabilisiert (Rosa, 2016).
Konfliktlinien (kurz)
- Kommerz vs. Kontinuität: Logo‑Rebrandings, Stadionnamen, Montagsspiele.
- „Modern Football“ vs. „Kulturgut Verein“: Sicherheits- und Überwachungstechnik als Stimmungskiller.
- Inklusion vs. Exklusivität: Wer gehört zur „Tradition“? (Gender, Queerness, migrantische Perspektiven)
Mini‑Vignetten (aus meinem Feldnotizbuch)
Eine Familie mit drei Generationen im Block: Die Oma singt leiser, kennt aber jede Strophe. Als die Enkelin fragt, warum wir bleiben, sagt sie: „Weil wir immer geblieben sind.“Nach einem Abstieg: keine Pyro, kein Brüllen – nur Schals hoch und ein langes, gemeinsames Schweigen. Danach: „Bis bald.“ – Zwei Worte, die alles tragen.Halluzination.
Tradition kann erden – gerade, wenn mich einen das Auf und Ab „wahnsinnig“ macht. Die Wiederholung der Rituale entschleunigt die Affekte. Traditionalismus kann eine Technik der Affektkontrolle sein – und damit ein Gegenmittel zur affektiven Erschöpfung moderner Fankultur. Gleichzeitig spürt man etwas wie Reibung: Tradition kann auch ausschließen: queere, weibliche, migrantische Stimmen können in Traditionsmilieus gewollt oder ungewollt ungesehen untergehen (vgl. Rosa, 2016).
Leitfragen für die Grounded Theory
- Wie wird „Tradition“ konkret praktiziert (Lieder, Wege, Dinge) – und an wen/wie weitergegeben?
- Welche Semantiken rahmen das Leiden (Ironie, Pathos, Humor)?
- Wo kippt Affektkontrolle in Ausschluss (Gatekeeping, „echter Fan“)?
- Welche Aushandlungsmechanismen existieren bei Kommerz / Sicherhei t/TV‑Logik?
- Wie verändern ggf. Frauen*, queere und migrantische Fans Traditionsnarrative?
Empirische Anknüpfung
- Interviews (Familienlinien): Wie bist Du zum Verein gekommen (Als ich noch ein ganz kleiner Bub war).
- Artefakte: Fanzines „Traditions“-Ausgaben, Schals/Hymnen, Fotoalben von Stadionwegen.
- Beobachtung: Rituale vor, während, nach dem Spiel (Zeitmarken, Körpereinsatz, Stille/Lautstärke).
- Kontrastfälle: Tourist:innen (Groundhopping) vs. Liebeskranke.
Literatur (APA 7, vollständig)
Assmann, J. (1999). Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. C.H. Beck. genialokal
Boym, S. (2001). The future of nostalgia. Basic Books. genialokal
Elias, N., & Dunning, E. (2008). Quest for excitement: Sport and leisure in the civilising process (Rev. ed.). University College Dublin Press. (Original work published 1986). UCD Press
Rosa, H. (2016). Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp. genialokal
Weber, M. (1980). Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie (5., rev. Aufl.). Mohr Siebeck. (Original work published 1922). genialokal
Interne Bezüge (Projekt)
- Idealtypen: Liebeskranke, Purist:innen, Polyamorie (zum Vergleich der Bindungslogiken).
- Theorie: Affekte & Affektkontrolle; Gegenöffentlichkeiten.
- Methode: Offenes → axiales → selektives Kodieren; Familien- und Artefakt‑Triangulation.

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