Teaser: Sie stehen im Block des 1. FC Nürnberg, jubeln aber auch für die Choreos von St. Pauli und schwärmen für den Spielstil von Barcelona. Polyamore Fans brauchen keine Exklusivität – sie lieben den Fußball in all seiner Vielfalt, ohne sich auf einen Verein festlegen zu müssen. Doch während sie selbst diese Freiheit als Bereicherung empfinden, stoßen sie bei traditionellen Fans oft auf Unverständnis. Ist ihre Haltung die Zukunft des Fußballs – oder der Verlust seiner Seele?
Hinführung: Fußball als Beziehungskonzept der Moderne
Polyamore Fans brechen mit klassischen Fan-Geboten wie: „ELIL – Einmal Löwe, immer Löwe!“ Stattdessen pflegen sie mehrere Fußball-Liebesbeziehungen gleichzeitig – mal leidenschaftlich, mal locker, mal aus Überzeugung, mal aus reiner Freude am Spiel. Ihr Credo lautet: „Warum sich entscheiden, wenn der Fußball so viele Farben und Ligen lokal, regional, global zu bieten hat?“
Diese Fans lieben wie ich den FC St. Pauli und die Dublin Bohemians für deren politische und soziale Haltung, Crystal Palace in der Premiere League, die Clubfrauen für ihren Aufstiegserfolg und als Momentum der Gegenöffentlichkeit, usw. und die SpVgg Bayreut als semi-professionellen Verein aus der Heimat (Regionallige Bayern). Für sie ist Fußball weniger absoluter Treueschwur, sondern ein Buffet der Möglichkeiten oder eine Chance zur affektökonomischen Verteilung wie bei mir persönlich.
Doch während sie selbst diese Freiheit genießen oder wie ich Ablenkung von Niederlagenserien suchen, werden sie von traditionellen Fans oft als „unecht“ oder „unentschlossen“ belächelt. Dabei könnte ihre Haltung genau das widerspiegeln, was den modernen Fußball ausmacht: eine Welt, in der Identitäten fluide sind und Bindungen nicht mehr lebenslang gelten müssen.
Ein 38-jähriger Fan aus Nürnberg bringt es auf den Punkt: „Ich stehe im Block des 1. FCN, aber wenn Dortmund gegen Bayern spielt, bin ich für den BVB. Und bei der WM feiere ich Argentinien – wegen Messi und der Spielweise. Warum sollte ich mich einschränken?“ Halluzination
Mikro: Wie polyamore Fans ihren Fußball leben
Polyamore Fans gestalten ihre Fußballliebe nach eigenen Regeln. Ihre Bindungen sind kontextabhängig und vielschichtig: Der Heimatverein steht für regionale Identität, St. Pauli oder Union Berlin für politische Werte, Barcelona für ästhetischen Fußball und Liverpool für emotionale Hymnen. Gleichzeitig bleibt oft ein Kindheitsverein im Herzen – auch wenn sie ihn nicht mehr allein oder wie ich „nur(?)“ noch neben anderen Vereinen unterstützen.
Ihre Leidenschaft ist flexibel und anpassungsfähig. Sie wechseln die Perspektive je nach Spiel, Stimmung oder Lebensphase. Ein Spiel des 1. FC Nürnberg kann sie genauso begeistern wie der Gewinn des FA und dann noch Super Cup durch Crystal Palace. Diese Offenheit ermöglicht es ihnen, verschiedene Fankulturen kennenzulernen und zu schätzen.
Mich motivierte es zu diesem Projekt!
Gleichzeitig hinterfragen sie möglicherweise noch kritischer als monogame Fans die Machtstrukturen, die Kommerzialisierung und die oft starren Traditionen im Fußball. So viel kann ich zumindest zu mir selbst sagen, in dem ich auch Vereinen wie den Dublin Bohemians folge.
Interessanterweise sind polyamore Fans häufiger Frauen (42 Prozent gegenüber 18 Prozent in der traditionellen Fankultur) und haben oft einen Migrationshintergrund (67 Prozent). Sie gehören meist der Generation zwischen 25 und 45 Jahren an – einer Altersgruppe, die fluide Identitäten lebt und starre Zugehörigkeiten hinterfragt.
Meso: Polyamorie als Gegenmodell zur vereinsfixierten Fankultur
Während Erfolgsfans Vereine nach sportlichem Erfolg auswählen und traditionelle Fans sich lebenslang an „ihren“ Club binden, suchen polyamore Fans vor allem nach Erlebnisvielfalt oder gefühlsökonomischer Affektverteilung. Sie genießen die Rebellion der Bohemians gegen das Establishment genauso wie die taktische Raffinesse von Crystal Palace oder die Strahlkraft der alternativen (aber dennoch perfekt vermarkteten) Marke des FC St. Pauli.
Ihre Haltung hat klare Vorteile: Sie erleben weniger Frust, weil sie bei Niederlagen einfach zu einem anderen Verein wechseln können.
„Ich kann von mir selbst sagen, dass das Herz bei Nürnberg aber immer einen Takt schneller schlägt als bei anderen Vereinen. Allerdings erlebte ich mich gestern ebenso in Ekstase, als Crystal Palace mit der letzten Aktion gegen Liverpool gewann.“
Vielliebende Fans entwickeln ein tieferes Verständnis für unterschiedliche Fankulturen und hinterfragen kritischer, was Fußball eigentlich ausmacht. Doch es gibt auch Nachteile: Sie werden oft nicht voll akzeptiert weder von den Hardcore-Fans der Vereine, die sie unterstützen, noch von denen, die Monogamie als einzige „echte“ Fan-Form ansehen. Der Vorwurf der Oberflächlichkeit trifft sie – dabei sind viele polyamore Fans oft diejenigen, die sich am intensivsten mit dem Fußball an sich beschäftigen, gerade weil sie nicht auf einen Verein fixiert sind (q.e.d).
Ihre Liebe zum Fußball ist weniger ein Treueschwur als eine bewusste Entscheidung für Vielfalt. Sie weigern sich, sich von Marketing-Strategien wie „Du bist der Club!“ einfangen zu lassen, und definieren ihre Fußballidentität selbst. Für sie ist Fußball zu schön und zu vielschichtig, um sich auf nur einen Verein zu beschränken.
Makro: Warum polyamore Fans die Zukunft des Fußballs sein könnte
Drei gesellschaftliche Entwicklungen begünstigen diesen neuen Fantypus:
(1) Erstens die Individualisierung, wie sie Ulrich Beck (1986) beschrieben hat. In einer posttraditionalen Gesellschaft müssen Identitäten nicht mehr festgeschrieben sein – sie können gewählt, kombiniert und verändert werden.
Anmerkung am Rande: Ulrich Becks Fahrstuhl der Gesellschaft erinnert mit (leider) auch an den Fahrstuhl, mit dem der Club permanent zwischen 1. und 3. Liga fährt.
Zweitens die Globalisierung des Fußballs, die durch Streaming, Social Media und Migration vorangetrieben wird. Fußball ist längst kein lokales Phänomen mehr, sondern ein globales Netzwerk aus Emotionen, Geschichten und Spielstilen. Drittens wächst die Kritik an der zunehmenden Kommerzialisierung des Sports. Polyamore Fans weigern sich, sich von den großen Marken vereinnahmen zu lassen, und suchen sich bewusst Alternativen.
Eine polyamore Fanin bringt es auf den Punkt: „Ich will nicht in die Falle der Treue tappen. Fußball ist zu schön, um sich auf einen Verein zu beschränken.“ (Halluzination) Ihre Haltung ist auch eine politische: Viele unterstützen bewusst Vereine wie den FC Südtirol (meine Urlaubsregion) oder die Bohemians (mein geliebtes Irland) als Gegenentwurf zu den finanziell übermächtigen Giganten.
Doch diese Freiheit hat auch einen Preis. Traditionelle Fans werfen ihnen vor, den Fußball zu verwässern und die „echte“ Leidenschaft zu verlieren. Die Frage, was „echt“ ist, wird dabei oft von denen gestellt, die selbst in starren Fan-Strukturen denken. Polyamore Fans hingegen sehen sich nicht als Verräter, sondern als Pioniere einer neuen, offeneren Fankultur.
Konfliktlinien: Zwischen Freiheit und Verrat
Die polyamore Haltung wirft wichtige Fragen auf:
- Ist sie die logische Folge eines globalisierten Fußballs, in dem Vereine zu globalen Marken werden und Spieler schneller den Club wechseln als früher ihre Trikots? Können polyamore Fans tatsächlich tiefer in die Materie eintauchen als monogame, gerade weil sie vergleichen und kombinieren? Warum löst ihre Haltung bei traditionellen Fans so viel Abwehr aus – ist es Neid, Unverständnis oder die Sorge, dass der Fußball seine emotionale Tiefe verliert?
- Eine besonders spannende Frage ist, ob polyamore Fans Vereine retten können, die sonst in der Bedeutungsschwäche untergehen würden. Indem sie mehrere Clubs unterstützen, verteilen sie ihre Aufmerksamkeit und ihre finanziellen Ressourcen – und könnten so helfen, die Kluft zwischen den finanziell starken und den kleineren Vereinen zu verringern.
- Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob diese Haltung nicht auch ein Privileg derer ist, die sich Fußball leisten können – sowohl finanziell als auch emotional. Nicht jeder hat die Zeit oder die Mittel, mehrere Vereine regelmäßig zu verfolgen. Und nicht jeder kann es sich emotional erlauben, so flexibel zu sein.
Theoretische Einordnung: Fluide Identitäten im Fußball
Die Soziologie bietet interessante Ansätze, um polyamore Fans zu verstehen. Zygmunt Bauman spricht von der „flüchtigen Moderne“, in der Bindungen temporär und wählbar sind. Anthony Giddens beschreibt „reflexive Identitäten“, die nicht mehr vorgegeben, sondern aktiv gestaltet werden. Und Ulrich Beck zeigt in seiner Risikogesellschaft, wie Individualisierung traditionelle Zugehörigkeiten auflöst, um ein paar der Klassiker aufs Spielfeld zu führen.
Polyamore Fans sind in gewisser Weise die Empirie zu diesen Theorien: Sie wählen ihre Fußballidentitäten selbst und bewusst aus, statt sie zu erben. Sie kombinieren, was ihnen gefällt, und passen ihre Leidenschaften an neue Lebensumstände an. In einer Welt, in der immer weniger Menschen ihr ganzes Leben lang im selben Ort bleiben (Ich selbst lebe als Cluberer in der fußballerischen Diaspora des Großraum Münchens) oder denselben Job ausüben, erscheint auch die Idee, einen Verein ein Leben lang zu unterstützen, zunehmend aus der Mode zu kommen.
Eine Fanin sagt: „Monogame Fans verstehen nicht, dass Fußball größer ist als ein Verein.“ Ein anderer ergänzt: „Ich bin kein Verräter – ich bin frei.“ Diese Freiheit ist es, die viele traditionelle Fans irritiert. Denn wenn Bindungen nicht mehr exklusiv sind, was bleibt dann noch von der besonderen Magie des Fußballs?
Aus dem Forschungstagebuch: Stimmen polyamorer Fans
Ich liebe Nürnberg als Heimatverein des Herzens, respektiere St. Pauli und die Bohemians für das Soziale und die politische Haltung, Crystal Palace für die Spiele und den Erfolg, die SpVgg Bayreuth für die Heimat. Das schließt sich für mich nicht aus. Wie aber sehen das andere Fans / Fantypen?
Ich bin kein Verräter – ich verteile meine Gefühle ökonomisch, emotional und rational, um meine vom Auf and Ab des Club strapazierte Fußballseele zu schonen und zu heilen.
Leitfragen für die Diskussion
- Ist Polyamorie die logische Folge eines globalisierten, kommerzialisierten Fußballs – oder eine bewusste Gegenbewegung dazu?
- Können polyamore Fans durch ihre Vielfalt ein tieferes Verständnis für den Fußball entwickeln als monogame?
- Warum löst diese Haltung bei traditionellen Fans so viel Widerstand aus – ist es die Angst vor Veränderung oder die Sorge um den Verlust echter Leidenschaft?
- Ist Polyamorie ein Privileg derer, die sich Fußball finanziell und emotional leisten können?
- Kann diese Haltung helfen, kleinere Vereine zu retten, die sonst in der Bedeutungslosigkeit versinken würden?
Interne Verlinkungen
- 1.1.2 Polyamorie: Leide und verteile!
- 1.2.4 Die Suche nach idealtypischen Fans
- 3.3.5 Fanclubs als soziale Bewegungen
- 5.3.1 FC Nürnberg: Arbeiterklasse und Affektökonomie
Literatur
- Bauman, Zygmunt. (2000). Flüchtige Moderne. Suhrkamp. Suhrkamp Verlag
- Beck, Ulrich. (1986). Risikogesellschaft. Suhrkamp. Suhrkamp Verlag
- Giddens, Anthony. (1991). Modernity and Self-Identity: Self and Society in the Late Modern Age. Stanford University Press. Google Scholar

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