Teaser: Während EM und WM haben „80 Millionen Bundestrainer:innen“ das Wort – und ich selbst rutsche zwischen Forscher‑, Fan‑ und Expert:innen‑Rolle hin und her. Hier ordne ich, was Expertise im Fußballfeld ausmacht, wie Affekte Urteile färben und warum Demut und Kalibrierung (Tetlock, 2005) in Turnierzeiten meine besten Werkzeuge sind.
Hinführung
In Turnierwochen vibriert mein Handy: Taktik‑Threads, Expected‑Goals, „Der muss raus!“. In Kneipen werden Aufstellungen dekretartig vorgetragen; in Studios werden Gewissheiten verteidigt. Ich spüre, wie mich diese Atmosphäre in den Modus des Erklärens zieht – und wie schnell ich dabei die Grenzen meiner Deutung vergesse. Als Forscher halte ich dagegen: Ich protokolliere Prognosen, Begründungen und Trefferquoten. Ich erinnere mich daran, dass sich verlässliche Expertise zeigt, wenn Vorhersagen kalibriert sind, wenn ich update, wenn neue Evidenz kommt (Tetlock, 2005).
Was ich unter Expertise verstehe
- Interaktionale vs. beitragende Expertise: Ich unterscheide zwischen interaktionaler Expertise (die „Sprache“ eines Feldes sprechen) und beitragender Expertise (selbst performen, z. B. Trainer:in, Analyst:in). Im Fußball habe ich interaktionale Expertise – die Rolle, komplexe Inhalte richtig zu verstehen, zu übersetzen und mit Akteur:innen sinnvoll zu sprechen (Collins & Evans, 2007).
- Deliberate Practice: Expertise wächst durch gezielte Übung, Feedback und Fehlerkultur, nicht durch Bauchgefühl allein (Ericsson et al., 2006).
- Probabilistisches Denken: Gute Expert:innen reden in Wahrscheinlichkeiten, nicht in Absolutismen – und revidieren (Kahneman, 2011).
80 Millionen Bundestrainer:innen – Segen und Fluch
Turniere demokratisieren Deutung – und das ist gut: Es gibt Schwarmwissen (Surowiecki, 2004). Aber ich sehe auch, wie Überlegenheitsillusionen Urteile verzerren: Menschen mit wenig Kenntnis sind oft über‑ statt **unter‑**sicher (Kruger & Dunning, 1999).
Dazu kommt die Illusion der Erklärtiefe: Wir glauben, Aufstellungen & Pressing „zu kennen“, bis wir es präzise erklären müssten (Rozenblit & Keil, 2002). Medienlogiken belohnen Pointen statt Kalibrierung – und ich spüre, wie mein eigener Ton härter wird, je lauter die Timeline ist.
Meine Praxis im Feld (EM/WM)
- Vorhersagen notieren & bewerten: Ich schreibe ex ante auf (z. B. „Team X erreicht das Halbfinale mit 40 %“), lege Begründungen ab und rechne ex post meine Trefferquote.
- Brier‑Denken light: Ohne Formalismus prüfe ich, ob meine Wahrscheinlichkeiten über viele Spiele kalibriert waren.
- Hedging erkennen: Ich markiere absolute Sätze („nie“, „sicher“) und trainiere mich auf Bandbreiten („30–40 %“), um Überzeugung nicht mit Rigorosität zu verwechseln.
- Gegenposition einholen: Ich frage gezielt nach Widerlegen – wer sieht was anders und warum?
Affektlogik – warum Expertise verführerisch ist
Expertise verspricht Kontrolle in einem Spiel voller Zufall. In Turnieren verdichtet sich das zu Gefühlsökonomien: Der sichere Ton beruhigt, die Prophezeiung gibt Halt. Ich merke, wie „Expert:in sein“ auch eine Affekttechnologie ist – für mich und mein Umfeld.
Konfliktlinien, die ich wahrnehme
- Stammtisch‑Absolutismus vs. probabilistische Demut: Krachende Statements vs. Bandbreiten und Updates (Tetlock, 2005).
- Performanzdruck der Studios vs. Forschungsethos: TV will Kante, Forschung will Kalibrierung.
- Tribal Bias: Nationaltrikot vs. nüchterne Analyse; ich notiere Ingroup‑Effekte (Tajfel & Turner, 1979) und BIRGing/CORFing (Cialdini et al., 1976).
Methodenfenster (Grounded Theory + KI)
Ich kodiere Expert:innen‑Aussagen aus TV/Pods/Timelines: Marker für Absolutismus, Hedging, Update‑Signale. Mit KI‑Hilfen tagge ich Prognosen, vergleiche sie mit Ergebnissen und visualisiere Kalibrierungen über das Turnier.
Aus meinem Forschungstagebuch
- Memo „Gruppenphase“: Ich überschätze „Form“ und unterschätze Matchups – Update nach zwei Spieltagen.
- Memo „K.-o.-Runde“: Unter Druck rutsche ich in Absolutismen („Das ist durch“). Ich markiere die Stelle und schreibe eine Gegenbegründung.
- Memo „Finale“: Mein 60 %-Call trifft. Wichtiger als der Treffer ist mir, dass meine Bandbreite passte – Kalibrierung tröstet sogar, wenn ich danebenliege.
Leitfragen, die ich mit ins Feld nehme
- Rede ich in Wahrscheinlichkeiten – oder in Dogmen?
- Was bringe ich ex ante zu Papier – und wie sauber update ich ex post?
- Welche Affekte treibt mein Experten‑Ton im Umfeld – Beruhigung, Spaltung, Mobilisierung?
Interne Verlinkungen (bei Veröffentlichung als WP‑Links setzen)
- 1.2.4 – Idealtypen – Hinführung
- 1.2.3 – Vom Fan zum teilnehmenden Beobachter
- 2.2.2.2 – Theorien des sozialen Vergleichs
- 1.1.1 – Fußball und LEIDENschaft
- 1.1.3 – Affekte und Affektkontrolle
Literatur (Links zu genialokal / Google Scholar)
- Tetlock, P. E. (2005). Expert Political Judgment. Princeton University Press. genialokal
- Collins, H., & Evans, R. (2007). Rethinking Expertise. University of Chicago Press. Google Scholar
- Ericsson, K. A., Charness, N., Feltovich, P., & Hoffman, R. (Eds.). (2006). The Cambridge Handbook of Expertise and Expert Performance. Cambridge University Press. Google Scholar
- Kahneman, D. (2011). Thinking, Fast and Slow. Farrar, Straus and Giroux. genialokal
- Kruger, J., & Dunning, D. (1999). Unskilled and unaware of it. Journal of Personality and Social Psychology, 77(6), 1121–1134. Google Scholar
- Rozenblit, L., & Keil, F. (2002). The misunderstood limits of folk science. Cognitive Science, 26(5), 521–562. Google Scholar
- Surowiecki, J. (2004). The Wisdom of Crowds. Anchor. genialokal
- Tajfel, H., & Turner, J. C. (1979). An integrative theory of intergroup conflict. In W. G. Austin & S. Worchel (Eds.). Google Scholar
- Cialdini, R. B., et al. (1976). Basking in reflected glory. Journal of Personality and Social Psychology, 34(3), 366–375. Google Scholar

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