Teaser: Ich nenne es pathologische Fanliebe: Der 1. FC Nürnberg führt mich durch extreme affektive Höhen und Tiefen – und trotzdem (oder deswegen?) bleibe ich. In diesem Porträt erkunde ich, wie obsessive Leidenschaft, Identitätsfusion und moralische Gegenwährungen meine Bindung strukturieren – und was ich von den Wochenendrebellen über die Suche nach „der richtigen Liebe“ lerne.
Hinführung
Manchmal macht mich der FCN wahnsinnig. Ein spätes Gegentor (in dieser Saison 25/26 gleich mehrfach hintereinander), ein VAR‑Kipppunkt, ein Winter, der länger dauert als geplant – und doch stehe ich wieder da. Diese Liebe fühlt sich nicht „vernünftig“ an. Sie ist verkörpert: im Magen, in der Brust, in den Schultern, im Hals. Ich erkenne darin das, was Vallerand als obsessive Passion beschreibt – eine Leidenschaft, die sich aufdrängt und mein Denken okkupiert (Vallerand et al., 2003). Und doch: In den seltenen, großen Momenten verschmilzt das Ich mit dem Wir – eine Erfahrung, die die Sozialpsychologie als Identitätsfusion fasst (Swann et al., 2012). Zwischen diesen Polen verhandle ich mein Fan‑Selbst, Woche für Woche, mal besser, mal schlechter.
Affektlogik – warum ich bleibe
- Schmerz mit Bedeutung: Niederlagen lassen sich moralisch umcodieren.
- Ritualisierte Hoffnung: Ein neuer Trainer, ein Talent aus der Jugend, ein volles Max‑Morlock‑Stadion – kleine Signale nähren große Erzählungen.
- Selbstwert im Spiegel der Kurve: Über BIRGing und CORFing reguliere ich Nähe und Distanz – aber der Anker bleibt (Cialdini et al., 1976).
Praktiken & Routinen, die mich prägen
- Wiederkehr trotz Frust: Dauerkarten‑Kalkül, Ausreden, Glücksrituale – die Routinisierung des Ausnahmezustands.
- Archivieren & Reframen: Tickets, Fotos, Memos – ich schreibe die Story meiner Bindung fort.
- Schutzbehauptungen & Selbstironie: Ich entlaste Affekte mit Humor („Der Club is a Depp“) und halte die Beziehung spiel‑fähig.
Konfliktlinien – wo es kippt
- Obsessive Passion vs. Alltag: Wenn die Liebe überzieht, kollidiert sie mit Arbeit, Beziehungen, Gesundheit (Vallerand et al., 2003).
- Relative Deprivation: Gefühlte Benachteiligung (Budget, Schiri, Verletzungen) kann in Sündenbock‑Logiken kippen (Gurr, 1970; Allport, 1954).
- Rollenkonflikte: Fan, Forschender, Familienmensch – Erwartungsbündel reiben sich (Dahrendorf, 1959).
Lernfigur: Die Wochenendrebellen – Suche nach der „wahren Liebe“
Ich schaue auf die Wochenendrebellen: Vater und Sohn, die quer durch die Stadien reisen, um „den richtigen Verein“ zu finden – eine Reflexionsmaschine für Bindung. Ihre Suche zeigt mir, dass Zugehörigkeit auch als offener Prozess gedacht werden kann: testen, vergleichen, selbstbestimmt wählen – statt in eine Liebe hineinzustolpern. Für meine „pathologische“ Liebe heißt das: Ich kann bewusst prüfen, wo mich Bindung nährt und wo sie mich verengt.
Weiterlesen: Mirco & Jason von Juterczenka (2017), Wir Wochenendrebellen. genialokal
Aus dem Forschungstagebuch
- Memo „Kippmoment“: 89. Minute, Führung – und das Körper‑Zittern vor dem Ausgleich. Ich notiere: „Antizipation als Leiden“.
- Memo „Schutzzauber“: Nach einer 0:1‑Pleite höre ich mich sagen: „Typisch Club!“ Ironie als Affektkontrolle.
- Memo „Fusion“: Eine Choreo, die den Block atmen lässt – Ich verschmilzt mit Wir. Memos als Marker für Identitätsfusion (Swann et al., 2012).
Leitfragen, die ich mir stelle
- Wann wird meine Liebe ressourcenverträglich (Zeit, Geld, Schlaf) – und wann selbstschädigend?
- Welche Routinen halten mich tragfähig (Freundeskreis, Familie, Humor, bewusstes Abschalten)?
- Wo brauche ich Distanz (Medien‑Diät, Auswärtspause), um Nähe zu bewahren?
- Wie spreche ich mit Nahen (Familie/Team) über Grenzen – ohne die Liebe zu entwerten?
Interne Verlinkungen
- 1.2.4 – Idealtypen – Hinführung (Weber/Dahrendorf/Platon)
- 1.2.3 – Vom Fan zum teilnehmenden Beobachter
- 2.2.2.2 – Theorien des sozialen Vergleichs
- 1.1.1 – Fußball und LEIDENschaft
- 1.1.3 – Affekte und Affektkontrolle
Literatur
- Vallerand, R. J., Blanchard, C. M., Mageau, G. A., Koestner, R., Ratelle, C., Léonard, M., Gagné, M., & Marsolais, J. (2003). Les passions de l’âme: On obsessive and harmonious passion. Journal of Personality and Social Psychology, 85(4), 756–767. APA/PsycNet‑Info
- Swann, W. B., Jr., Gómez, Á., Seyle, D. C., Morales, J. F., & Huici, C. (2009/2012). Identity fusion: The interplay of personal and social identities in extreme group behavior. Journal of Personality and Social Psychology / Self and Identity. OSF/Info‑Seite
- Cialdini, R. B., Borden, R. J., Thorne, A., Walker, M. R., Freeman, S., & Sloan, L. R. (1976). Basking in reflected glory. Journal of Personality and Social Psychology, 34(3), 366–375. Abstract
- Gurr, T. R. (1970). Why Men Rebel. Princeton University Press. Verlag/Titelinfo
- Allport, G. W. (1954). The Nature of Prejudice. Addison‑Wesley. genialokal
- Mirco von Juterczenka & Jason von Juterczenka (2017). Wir Wochenendrebellen. Rowohlt. genialokal
WordPress‑Metadaten (Vorschlag)
- Kategorie(n): Idealtypen; Fankultur; Selbstreflexion
- Tags: Liebeskranke, FCN, Obsessive Passion, Identitätsfusion, BIRGing/CORFing, Wochenendrebellen
- Slug: 1-2-4-2-liebeskranke-r
- Excerpt: Der FCN macht mich wahnsinnig – und hält mich. Ein Ich‑Porträt zwischen obsessiver Leidenschaft, Identitätsfusion und der Lehre der Wochenendrebellen.
Modellvorschlag: GPT‑5 Thinking (feine Abstimmung zwischen Ich‑Narration, Theorie und GT‑Werkzeugen).

Schreibe einen Kommentar