Teaser: Wie lassen sich Fans so beschreiben, dass wir wiederkehrende Muster erkennen, ohne Menschen in enge Schubladen zu sperren? Meine Antwort hier: Idealtypen – analytische Zuspitzungen, die helfen, komplexe Wirklichkeit zu ordnen und Vergleiche zu ermöglichen.
Hinführung
Wer im Fußball forscht, steht vor einer doppelten Herausforderung: Fankulturen sind ungeheuer vielfältig – und gleichzeitig zeigen sich stabile Wiedererkennungszeichen. Zwischen der Sportgeneralistin, der am Wochenende jedes Spiel scannt, und demLiebeskranken, der für „seinen“ Verein (fast) alles stehen und liegen lässt; zwischen Ultras, die kollektiv Atmosphäre produzieren, und Hooligans, die Konfrontation suchen; zwischen Expert:innen, Erfolgsfans, Polyamoren (Mehrfachbindungen), Politischen & Sozialen, Purist:innen, Fantourist:innen, Traditionalist:innen, Amateurspieler:innen und Vereinslokalist:innen – überall sehen wir Idealtypen.
Statt diese Vielfalt zu normieren, arbeiten wir demnach mit Idealtypen im Sinne Max Webers: bewusst zugespitzte Denkfiguren. Sie sind keine Personen und keine moralischen Etiketten, sondern heuristische Landkarten. Ihr Nutzen: Sie machen Vergleiche möglich, sie erlauben dichte Beschreibungen und sie helfen, Affekte und Praktiken sichtbar zu machen.
Theoretische Fundierung: Weber, Dahrendorf und Platons Höhle
Max Weber – Idealtyp als heuristische Zuspitzung
In Webers Sinne (1920) sind Idealtypen bewusst einseitige Zuspitzungen: gedankliche Konstruktionen, die ausgewählte Züge der sozialen Wirklichkeit übersteigern, um sie vergleichbar und verständlich zu machen. Sie ordnen Wirklichkeit – sie bilden sie nicht ab. Für unsere Fan‑Typen heißt das: Wir schaffen Denkfiguren, die Beobachtung leiten (z. B. Bindungstiefe, Raumbezug, Affektprofil), ohne den Anspruch zu erheben, „die“ Fans an sich zu erfassen.
Weiterlesen: Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Grundlagenkapitel zu Idealtypen). genialokal
Ralf Dahrendorf – Rollentheorie als Realitätsprüfer
Dahrendorf versteht soziale Rollen als Erwartungsbündel, die an Positionen geknüpft sind. Menschen tragen mehrere Rollen gleichzeitig (z. B. Ultra, Elternteil, Beschäftigte:r) – daraus entstehen Rollenkonflikte und Rollenstress. Für unsere Typologie bedeutet das: Idealtypen sind Profile, aber gelebte Biografien sind Rollenmischungen im Spannungsfeld unterschiedlicher Erwartungen.
Weiterlesen: Dahrendorf, Homo Sociologicus (Rolle, Erwartungen, Sanktionen). genialokal
Platon – Das Höhlengleichnis als Warnhinweis
Platons (2017) Höhle erinnert uns daran, dass Modelle leicht für Realität gehalten werden. Idealtypen können – falsch verwendet – zu Schattenbildern werden: klar konturiert, aber abgewandt von der wechselvollen Praxis. Unsere Nutzung bleibt daher reflexiv: Idealtypen sind Instrumente, keine Abbilder.
Weiterlesen: Republic VII (Höhlengleichnis) – Überblick. Stanford Encyclopedia of Philosophy · Buchausgabe: Politeia (z. B. Reclam). genialokal
Was Idealtypen nicht leisten
- Sie erfassen nicht die volle Ambivalenz und Widersprüchlichkeit einzelner Biografien.
- Sie bilden Übergänge und Lebensphasenwechsel nur vereinfacht ab (z. B. vom Erfolgsfan zur Expert:in).
- Sie können Macht‑ und Ungleichheitsverhältnisse überblenden, wenn diese nicht explizit mitgeführt werden (z. B. Gender, Klasse, Migration).
- Sie dürfen nicht als moralische Etiketten genutzt werden (keine Auf‑/Abwertung), sondern als Arbeitsbegriffe für Vergleich, Analyse und Gespräch.
Leitidee
Wir verstehen Idealtypen als bewegliche Profile entlang zentraler Achsen. Jede spätere Figur (z. B. Ultras, Purist:innen) wird nicht als Schublade, sondern als Knotenpunkt auf folgenden Skalen beschrieben:
- Bindungstiefe (locker – existenziell)
- Routinen (gelegentlich – hochfrequent/auswärts)
- Raumbezug (lokal – transnational)
- Affektprofil (ruhig – ekstatisch/eskalativ)
- Normenorientierung (fair‑play – konfrontativ)
- Politische Semantik (apolitisch – explizit politisiert/sozial)
- Ökonomischer Modus (Konsument:in – Produzent:in von Atmosphäre/Artefakten)
- Medienpraktiken (analog – digital/streaming‑multiscreen)
- Mobilität (Heim – Auswärts – Europatours)
- Kenntnisgrad (casual – expert)
- Gender‑/Inklusionsmodus (maskulin‑exklusiv – inklusiv/queer‑freundlich)
Forschungsethos
- Nicht essentialisieren: Menschen bewegen sich zwischen Typen (lebensphasenspezifisch, situativ, kontextabhängig).
- Mehrdeutigkeit zulassen: Erfolgsfan kann zugleich Expert:in sein; Purist:in kann polyamor sein (Mehrfachbindungen) – Idealtypen überlappen.
- Affekte ernst nehmen: Typen sind Affekt‑ und Praxisbündel (Gesänge, Choreos, Wegekulturen), keine reinen Meinungsprofile.
- Moral rausnehmen: Idealtypen sind Beschreibungen, keine Auf‑ oder Abwertungen.
- Grounded bleiben: Jede Figur wird aus Daten heraus entwickelt (Interviews, Beobachtungen, Artefakte) und im Verlauf nachgeschärft (offen → axial → selektiv).
Was kommt als Nächstes
In den kommenden Teilbeiträgen skizzieren wir die oben genannten Idealtypen jeweils als kompakte Porträts: szenische Einstiegsvignette, Kernpraktiken, Affektlogik, typische Konfliktlinien, Leitfragen für Interviews/Beobachtung, Literatur und interne Verlinkungen. Ziel ist kein Sammelalbum exotischer Figuren, sondern ein Arbeitswerkzeug: Die Typen sollen helfen, Fanfälle zu vergleichen, Ambivalenzen zu erkennen und Gesprächsanlässe (z. B. in Fanprojekten, Lehre, Beratung) zu bieten.
Interne Verlinkungen
- 1.2.3 Vom Fan zum teilnehmenden Beobachter – Reflexivität zwischen Leidenschaft und Analyse
- 2.2.2.2 Theorien des sozialen Vergleichs – Warum wir jubeln, wenn die anderen leiden
- 1.1.1 Fußball und LEIDENschaft
- 1.1.3 Affekte und Affektkontrolle
Literatur
- Weber, M. (1978). Wirtschaft und Gesellschaft. Mohr. genialokal
- Geertz, C. (1973). The Interpretation of Cultures. Basic Books. genialokal
- Giulianotti, R. (2002). Supporters, followers, fans, and flâneurs. Journal of Sport & Social Issues, 26(1), 25–46. Abstract
- Jenkins, H. (2013). Textual Poachers (Updated 20th Anniversary Ed.). Routledge. genialokal
- Wann, D. L. (1997). Sport Fans: The Psychology and Social Impact of Spectators. Routledge. genialokal
- Spaaij, R. (2006). Understanding Football Hooliganism. Amsterdam University Press. Verlag
- Dahrendorf, R. (2006). Homo Sociologicus: Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle. VS Verlag. genialokal
- Platon. Politeia (Buch VII: Höhlengleichnis). SEP‑Überblick · genialokal

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