Teaser: Derbytage zeigen die rohe Logik des sozialen Vergleichs: Wir fühlen uns besser, wenn die anderen schlechter dran sind. Sozialvergleich ist dabei kein moralischer Ausrutscher, sondern ein zentraler Motor der Affektökonomie im Fußball – von der Kurve bis zur Medienarena.
Hinführung
Derbytage sind besondere Verdichter der Affekte. Schon auf dem Weg ins Stadion – in der überfüllten Straßenbahn, an der Würstchenbude, auf den Treppen zur Kurve – schiebt sich das Wir gegen Die (AntiFü) in den Vordergrund. Schal hoch, kurzer Blickkontakt, ein Witz („Lieber Fünfter als Fürther„) über die anderen: Aus vielen Einzelnen wird ein Kollektiv, das sich nicht nur am eigenen Team ausrichtet, sondern am Gegner und seinen Fans, dessen Fankultur spiegelt. Jede Fahne des Rivalen, jede Schlagzeile, jeder Tabellenstand dient als Folie, auf der sich die eigene Stimmung justiert. Dieses ständige Abgleichen ist keine Nebensache – es ist der Motor, der Jubel auflädt, Niederlagen erklärt und Zugehörigkeit fühlbar macht.
Wer je nach einem knappen Sieg die Stadt erlebt hat, kennt die Lust am gemeinsamen Überlegen-Sein für wenige Stunden: Trikots werden sichtbarer, die „wir“-Sätze fließen leichter, selbst der Montagmorgen schmeckt besser. Und umgekehrt: Fällt die eigene Leistung ab, greifen Retter-Erzählungen – Pech, Schiri, Budget. Auch das ist Vergleich: Wir schützen unser Selbstbild, indem wir uns anders rahmen als die anderen – traditioneller, authentischer, benachteiligter, echter. In diesem Spiel des Gegenüber entsteht Identität nicht trotz, sondern durch Differenz.
Soziologisch gesprochen: Was wir in 1.1.1 als Affektladung (Liebe/Leiden) und in 1.1.3 als Affektkontrolle beschrieben haben, bekommt hier seinen Hebel. Vergleich ordnet Affekte, gibt ihnen Richtung und Tempo. Er erklärt, warum bestimmte Gesänge genau jetzt passen, warum Ironie nach Niederlagen entlastet, warum „Tradition“ als moralische Gegenwährung zur finanziellen Unter- oder umgekehrt das Zelebrieren als „Schickeria“ zur Überlegenheit funktioniert.
In diesem Beitrag folgen wir dem Faden vom Mikro (Gefühle, Sprache, Körper) über das Meso der Kurvennormen und Medienframes bis zum Makro der Ressourcenungleichheit. Ziel ist kein moralisches Urteil über Schadenfreude, sondern ein Verständnis dafür, wie Vergleich unsere Fußballgefühle strukturiert – und warum Derbytage sich anfühlen, als wäre die ganze Stadt ein Spiegel.
Worum es geht – die Kurzfassung
- Sozialer Vergleich (Festinger, 1954) erklärt, warum wir unsere Leistung, Identität und Stimmung am Verhalten anderer ausrichten – im Stadion in Echtzeit.
- Soziale Identität (Tajfel & Turner, 1979) ergänzt: Wir erleben uns primär als Gruppenmitglieder (Verein/„Kurve“) und streben positiven Distinktionsgewinn gegenüber Rival:innen an.
- Optimal Distinctiveness (Brewer, 1991) zeigt die Gratwanderung: Zugehörigkeit ohne im Einerlei zu verschwinden – „so wie wir ist niemand“.
Fußball-Fazit: Sozialvergleich strukturiert Affekte (Jubel, Wut, Schadenfreude), Praktiken (Gesänge, Choreos) und Deutungen („Wir sind echt – die anderen kaufen Erfolg“).
Mikro-Logik: Wie Vergleiche Gefühle schieben
Upward/Downward Comparison
- Upward (nach oben): Blick auf reichere/erfolgreichere Clubs → Neid, Wut, Mobilisierung (Protest-Choreos, Anti-„Modern Football“).
- Downward (nach unten): Blick auf schwächere Rivalen → Stolz, Erleichterung, Schadenfreude (Derby-Sprechchöre).
BIRGing & CORFing (Cialdini et al., 1976)
- BIRGing (Basking in Reflected Glory): „Wir haben gewonnen“ → Schal tragen, Vereinslogo zeigen, „wir“-Rhetorik.
- CORFing (Cutting Off Reflected Failure): „Die haben verloren“ → Distanzierung, Ironie, Zynismus nach Pleiten („war halt nicht unser Tag“).
Self‑Evaluation Maintenance (Tesser, 1988)
- Nahestehende Rival:innen (Nachbarstadt, Schwesterverein) bedrohen das Selbstwertgefühl stärker → intensivere Affekte, härtere Sprache.
Affekt-Spitzen im Spiel
- Grenzsituationen (VAR, Elfmeter, Rudelbildung) erzeugen Hochfrequenz-Vergleiche: Wer profitiert? Wer wird benachteiligt? Die Kurve bewertet sofort – Vergleich ist der Trigger.
Meso-Logik: Kurvenregeln, Routinen, Medienframes
- Kurvennormen: „Wir pfeifen nie unsere eigenen aus“ vs. „Druck machen“ – lokal geteilte Vergleichsregeln.
- Ritualisierte Abwertung: Banner, Gesänge („Stadt–Land“, „Echt vs. Plastik“) stiften Distinktion und entlasten Enttäuschung.
- Scoreboard-Watching: Parallelspiele nähren indirekte Vergleiche („Solange die verlieren, ist unsere Welt in Ordnung“).
- Medienlogik: Tabellen, Expected-Goals, Rankings machen Vergleich dauerpräsent – und emotional verwertbar.
Makro-Logik: Ungleichheit, Kommerz, Klassenfragen
- Ressourcenscheren (TV-Gelder, Investoren) strukturieren den Vergleichshorizont: Außenseiter-Pathos vs. Favoriten-Logik.
- Politik der Authentizität: „Tradition“ wird zur moralischen Währung gegen finanzielle Überlegenheit.
- Stadtsoziologie: Gentrifizierung, Stadionlagen, Ticketpreise → neue Vergleichslinien (Kurve vs. Business-Seats).
Methodenfenster (Grounded Theory + KI)
Offenes Kodieren – Indikatoren für Sozialvergleich
- Sprachmarker: „wir/die“, „echt/gekauft“, „Tradition/Plastik“, „verdient/unverdient“.
- Praktiken: BIRGing (Merch-Nutzung nach Sieg), CORFing (ironische Distanz nach Niederlagen), Schadenfreude-Emotes in Foren.
Axiales Kodieren – Beziehungen
- Rivalitätsnähe × Ressourcendifferenz → Affektintensität.
- Ergebnislage × normative Kurvenregeln → BIRGing/CORFing-Muster.
Selektives Kodieren – Kernkategorien
- „Vergleichte Zugehörigkeit“ (wir konstituieren uns am Rivalen)
- „Moralische Distinktion“ (Authentizität als Abwertungscode)
KI-Einsatz (beispielhaft)
- Topic-Modeling zu Rivalitäts-Threads; Mustererkennung für BIRG-/CORF-Marker; Sentimentläufe um Derbytage.
Aus dem Forschungstagebuch
Memo 17/„Derby-Atmung“: Vor dem Spiel abfällige Witze (Downward). Nach 0:1 kippt die Sprache in Upward‑Vergleiche („die kaufen die Schiris“). Nach spätem Ausgleich: kollektiv sichtbares BIRGing – Schals hoch, „wir sind wieder da“.
Memo 23/„Moralische Buchführung“: In Interviews wird „Tradition“ als Gegenwährung zur sportlichen Überlegenheit genannt – Vergleich dient der Selbstwertstabilisierung.
Praxis: Leitfragen für Interview & Beobachtung
- „Welche Rivalen fühlen sich am nächsten an – und warum?“ (Nähe/SEM)
- „Wann sagst du wir – und wann die?“ (BIRG/CORF)
- „Welche Sätze hörst du nach Niederlagen/Siegen am häufigsten?“ (Vergleichsmarker)
Mini-Glossar
- BIRGing: Im Glanz des Erfolgs baden (Wir-Rhetorik, Sichtbarkeit).
- CORFing: Nach Misserfolg Distanz herstellen (Ironie, Ausreden).
- Downward/Upward Comparison: Vergleich nach unten/oben (Entlastung vs. Ansporn/Frust).
- Optimal Distinctiveness: Gleich sein und doch anders bleiben.
Literatur (Auswahl, APA)
- Brewer, M. B. (1991). The social self: On being the same and different at the same time. Personality and Social Psychology Bulletin, 17(5), 475–482.
- Cialdini, R. B., Borden, R. J., Thorne, A., Walker, M. R., Freeman, S., & Sloan, L. R. (1976). Basking in reflected glory. Journal of Personality and Social Psychology, 34(3), 366–375.
- Festinger, L. (1954). A theory of social comparison processes. Human Relations, 7(2), 117–140.
- Tajfel, H., & Turner, J. C. (1979). An integrative theory of intergroup conflict. In W. G. Austin & S. Worchel (Eds.), The social psychology of intergroup relations (pp. 33–47). Brooks/Cole.
- Tesser, A. (1988). Toward a self-evaluation maintenance model of social behavior. Advances in Experimental Social Psychology, 21, 181–227.
- Wills, T. A. (1981). Downward comparison principles in social psychology. Psychological Bulletin, 90(2), 245–271.
- Hogg, M. A. (2007). Uncertainty–identity theory. Advances in Experimental Social Psychology, 39, 69–126.

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