1.2.1 Warum Grounded Theory

Iterative Theoriebildung in der affektiven Welt des Fußballs

Fußball ist ein hochaffektives, widersprüchliches und nicht nur mit Blick auf Spielergebnisse, Auf- und Abstiege oder Titel ein unvorhersehbares Feld. Emotionen flackern rund ums Spielfeld auf, kippen, machen sich in kollektiver Ekstase (Durkheim) breit – und entziehen sich so vermutlich vorfixierten Hypothesen. Die Grounded Theory (GT) (Glaser & Strauss 1967) ist für mich nicht Zufall, sondern die passende Antwort auf ein Forschungsfeld, das sich in permanenter Bewegung befindet. Theorie entsteht nicht über das Feld, sondern aus dem Feld – im Wechselspiel von Datenerhebung und Analyse (Glaser & Strauss 1967).

Was diese Methode mir hier leistet

Statt vorgefertigte Modelle über Fans und ihre – nennen wir es an dieser Stelle ruhig Gefühle – zu stülpen, erlaubt die Grounded Theory eine induktive, emergente Theoriebildung. Ich nehme so nicht nur meine sondern eben auch die Deutungen der Beteiligten ernst (Charmaz 2014) und mache sichtbar, wie Fans selbst zu Theoretiker:innen ihrer gelebten „Gefühlspraxis“ werden – wenn sie über „Echtheit“, „Leidenskultur“ oder „Kommerz“ sprechen, formulieren sie alltagsnahe Mikrotheorien, die ich versuche, systematisch aufzugreifen (Charmaz 2014).

Kontext statt Einzelpunkt: situative Karten

Im Anschluss an Clarke (2012) arbeite ich mit situational maps, um das Zusammenspiel von Menschen, Dingen und Diskursen sichtbar zu machen – von der Stadionarchitektur über den VAR bis zu den sozialen Medien (ebenda). So wird klar: Eine Protestchoreo, ein Fan-Podcast oder ein Meme sind Knoten in einem affektiven Netz und keine isolierten Datenpunkte.

Partizipative GT im Projektverbund

Ich setze Grounded Theory partizipativ um: Fans kodieren quasi mit, spiegeln oder widersprechen meinen Kategorien, prüfen meine Ableitungen gegen ihre eigene Empirie. Methodische Standards, Qualitätssicherung und Versionierung verankere ich projektseitig in meinem KI-Methoden-Ring (Kodierlogik, KI-Workflows, Audit-Trail) und im Reflexions-Ring (Positionalität, Bias-Checks, Lernschleifen). Diese Ringe sichern Nachvollziehbarkeit, Konsistenz und Lernzyklen über Kapitel hinweg.

Drei Kodierstufen + Audit-Trail

1) Offenes Kodieren: induktive Kategorien aus Interviews, Feldnotizen, Fanzines und Social Posts.
2) Axiales Kodieren: Beziehungen zwischen Affekt, Kontrolle und Widerstand (z. B. VAR-Wut → Regeldiskurs → Gegenchoreo).
3) Selektives Kodieren: Verdichtung zu Kernkategorien wie affektive Eigenlogik oder digitale Gegenöffentlichkeit.

Alle Schritte dokumentiere ich mit Zeitstempeln, Memos und Parametern im Audit-Trail.

Affekte als Analysebausteine

Affekte sind keine Fußnoten, sondern zentrale Kategorien: Wann kippt Euphorie in Wut? Wie wird Leiden kollektiv performt (Choreographien in schwierigen Phasen oder nach einem Abstieg)? Wie wird Kontrolle affektiv legitimiert (Sicherheits-, Ticket- oder VAR-Diskurse)? Die Prozessperspektive der GT erlaubt, solche Dynamiken ohne Reduktion auf simple Kausalitäten zu rekonstruieren (Charmaz 2014).

KI als Gegenlese – Skalierung ohne Tiefe

KI nutze ich als „dritte Stimme“: Sie hilft beim Transkribieren, Segmentieren und Auffinden von Mustern in großen Korpora – die Deutung bleibt bei mir und dem Forschungsteam (Charmaz 2014). Governance-Regeln, Workflows und QA sind projektweit festgelegt; Bias-Risiken und Fehlklassifikationen (z. B. Ironie) adressiere ich im Reflexions-Ring.

Fazit

Grounded Theory ist meine Spielphilosophie: improvisierend, kollaborativ, situativ – und robust genug, um das affektive Chaos des Fußballs nicht zu glätten, sondern als Quelle soziologischer Erkenntnis fruchtbar zu machen.

Forschungstagebuch

Nach jedem Kodierzyklus halte ich knapp fest: Welche Kategorien haben „gezogen“? Wo gab es Widerspruch im Feld? Welche KI-Vorschläge waren hilfreich oder irreführend? Diese Memos fließen in den Reflexions-Ring und justieren die nächsten Erhebungs- und Auswertungsschritte.

Leitfragen

  • Wie verändert sich Forschung, wenn Fans als Ko-Produzent:innen an der Theoriebildung beteiligt sind?
  • Welche affektiven Phänomene entziehen sich (noch) der Kodierung – und warum?
  • Wie nutze ich KI als Gegenlese, ohne interpretative Tiefe und Kontext zu verlieren?

Literatur & Links

Charmaz, K. (2014). Constructing Grounded Theory (2nd ed.). Sage. Constructing Grounded Theory

Clarke, A. E. (2012). Situational Analysis: Grounded Theory After the Interpretive Turn. Sage. Situational Analysis

Glaser, B. G., & Strauss, A. L. (1967). The Discovery of Grounded Theory: Strategies for Qualitative Research. Aldine. The Discovery of Grounded Theory


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