1.1.3 Affekte und Affektkontrolle

Eine Einführung ins Thema

Fußball ist nicht nur für mich ein Labor der Affekte, in dem Jubel, Wut, Trauer und Ekstase nicht nur zugelassen, sondern vielleicht sogar Pflicht sind. Diese Emotionen sind aber kein freies Spiel der Gefühle – sie unterliegen komplexen sozialen Mechanismen der meist kontrollierten Entladung, Steuerung und Einschränkung. Folgende Fragen stehen hier (bislang) im Mittelpunkt:

  • Wie entstehen Affekte in Fankulturen?
  • Wie werden Affekte entladen, reguliert, kanalisiert oder unterdrückt?
  • Welche (soziale) Rolle(n) spielen beteiligte Akteure vom Fan über die Kurve als Ganzes bis zu den Profis?
  • Wie wird Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit im Habermas’schen Sinne auf dem und rund ums Spielfeld konstruiert und gelebt?

Fußball ist ein mikrosoziologischer Kosmos moderner Affektökonomien mit makrosoziologischem Impact. Hier zeigt sich eine wundervoll emotional geladene Dialektik von individueller Leidenschaft (z. B. Fan-Engagement, emotionale Identifikation) und gesellschaftlicher Kontrolle (z. B. durch Kommerzialisierung, Überwachungstechnologien wie VAR, Sicherheitsregime). Hier existieren zahlreiche soziale Spannungsverhältnisse, die den Soziologen in mir einlädt, die eigenen Affekte und die „der Anderen“ soziologisch zu untersuchen.

Norbert Elias (1986), mein Lieblingsoziologe seit dem ersten Semester, zeigt, dass die Geschichte moderner Gesellschaften nicht nur die der Klassenkämpfe 😉 sondern auch eine Geschichte der Affektkontrolle ist. Soziale und individuell erlebte Emotionen münden nicht in blutige Kämpfe oder werden abgeschafft, sondern sie werden in sozial regulierte Bahnen gelenkt. Der Fußball als soziales Pnänomen wird am Spieltag, im Stadion, in den Wohnzimmern, in den (Vereins)Kneipen, im Streaming, beim Smalltalk,… ein Ort (in allen Sinnen des Wortes), an dem Affekte kontrolliert entfesselt werden dürfen. Stadien werden zu (mehr oder minder) zivilisierten gesellschaftlichen Ventilen, durch die gesellschaftlich sonst tabuisierte Emotionen wie Aggression oder ekstatisches Schreien in ritualisierte Formen überführt werden. Doch diese Balance ist prekär.

Wie Dunning (1999) betont, kann das fragile Gleichgewicht zwischen kontrollierter Spannung und De-Zivilisation jederzeit kippen – sei es durch Gewalt, Ausschreitungen oder den vollständigen Kontrollverlust ganzer Fankulturen. Fußballstadien sind Räume, in denen die Ambivalenz moderner Affektregulierung sichtbar wird: Sie ermöglichen temporäre Entgrenzung (Fremde umarmen, Tränen zeigen, kollektiv schreien), setzen dieser Entgrenzung aber gleichzeitig sichtbare und unsichtbare Grenzen durch Spielregeln, Ordnungsdienste und polizeiliche Eingriffe.

Sigmund Freud, um den ersten el Classico zu bemühen, (1930/2006) deutet solche Spannungsverhältnis als Konflikt zwischen Trieb und Kultur. Das Stadion wird zum kulturellen Ausnahmezustand, in dem Normen temporär suspendiert werden, während gleichzeitig strenge Regulierungsmechanismen (Einlasskontrollen, Fanordnungen, Polizeipräsenzen) die emotionale Entladung in Bahnen lenken. Fußball ist somit ein sicherer Raum für Unsicherheit, ein Paradoxon, das wohl zugleich die Faszination des Fußballs ausmacht. Ob diese Sicherheit für alle Protagonist:innen (Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeiten) gleichermaßen gilt? Wir werden sehen.

Diese Doppelnatur wird auch in sozialpsychologischen Theorien greifbar: Die Theorie der kognitiven Dissonanz (Festinger 1957) erklärt, warum Fans nach emotionaler Konsistenz streben und ihre Affekte nicht nur einschränken sondern auch umdeuten.

Die Reaktanztheorie (Brehm, 1966) wiederum erklärt, warum Verbote – etwa von Pyrotechnik – oft den gegenteiligen Effekt haben und den Wunsch nach „verbotener Leidenschaft“ sogar verstärken. Pyrotechnik in den Kurven ist dafür ein Paradebeispiel: Trotz Verbote und hoher Geldstrafen, die dem eigenen Verein schaden, wird sie von Fans als legitimer Ausdruck von Leidenschaft verteidigt, ja geradezu als Akt der Selbstbehauptung gegen eine als bevormundend empfundene Kontrolle inszeniert.

Die Affektkontrolle präsentiert sich bei Fans / den Vereinen unterschiedlich:

  • Beim 1. FC Nürnberg z.B. gehört das kollektive Leiden und Durchhalten zur affektiven Selbstregulation der Fans – die Inszenierung von Treue gerade im Scheitern wird hier zur Identitätsstiftung. (Ein Fels in wilder Brandung, der Vieles überstand.)
  • In St. Pauli wird Affektkontrolle durch queere und linke Fanszenen kulturell gerahmt: Choreografien gegen Homophobie oder für Diversität verwandeln Emotionen in politische Botschaften und schaffen so eine eigene Form der Regulierung.
  • In England, etwa bei Crystal Palace, wo externe Repression dominiert: Videoüberwachung, Fan-Trennung und massive Polizeieinsätze prägen das Stadionerlebnis.

Wir werden im Forschungsverlauf viele weitere empirische Fälle betrachten. Denne Unterschiede wie diese werfen spannende soziologische Fragen auf:

  • Wie wird Affektkontrolle in verschiedenen Fankulturen ausgehandelt – zwischen Selbstdisziplin, Gruppenregeln und staatlichen Eingriffen?
  • Und welche Rolle spielen dabei digitale Technologien wie Social-Media-Monitoring oder der Videobeweis (VAR), die Affekte im 21. Jahrhundert auf neue Weise steuern?
  • Welche formellen und informellen Regeln gelten und wer definiert, ändert, generiert sie oder schafft diese ab?
  • Was macht die Kommerzialisierung des Fußballs mit den Affekten?

Die kommerzielle Dimension der Affektlenkung zwischen Streaming-Abo, Stadionbesuch und Millionentransfers wird betrachtet. Vereine und Verbände nutzen Emotionen zunehmend als Marketinginstrument – sei es durch gezielte Inszenierung von „Gänsehautmomenten“ oder die Vermarktung von Fanartikeln, die an emotionale Höhenpunkte anknüpfen. Gleichzeitig führen technologische Innovationen wie Gesichtserkennung oder KI-gestützte Überwachung zu einer Verschiebung der Kontrolle: Nicht nur die Kurve selbst, sondern auch Algorithmen entscheiden mit, welche Emotionen sichtbar werden und welche unterdrückt werden. Die VAR-Debatte ist symptomatisch: Einerseits soll die Technologie Affekte kühlen und für mehr Gerechtigkeit(?) sorgen, andererseits unterbricht sie den emotionalen Fluss des Spiels und schafft neue Frustration, neue Unsicherheit, neue Fehlerquellen.

Meine ganz persönliche Frage hier: Welche Sicherheit suchen wir eigentlich? Lebt das Spiel nicht von den Fehlern aller Beteiligten? Wie sonst entstehen Tore, wenn nicht aufgrund eines menschlichen Makels von welcher Seite auch immer. Denn auch im Keller sitzen,… MENSCHEN!

Folgen Sie mir auf meiner qualitativ-empirischen, sozialwissenschaftlichen, gerade begonnenen Reise durch das Universum „Fußball“.

Ich schreibe hier als Soziologe, als Blogger und als Fan (in erster Linie Cluberer, mit breit gestreuten Sympathien): Was macht der Fußball mit uns, im Großen wie im Kleinen? Und damit meine ich nicht nur die Fans des Ballsports sondern auch seine Gegner.

Literaturverzeichnis

Brehm, J. W. (1966). A theory of psychological reactance. Academic Press.

Dunning, E. (1999). Sport matters. Routledge.

Elias, N. (1986). Über den Prozess der Zivilisation. Suhrkamp.

Elias, N. & Dunning, E. (1986). Quest for excitement. Blackwell.

Festinger, L. (1957). A theory of cognitive dissonance. Stanford University Press.

Freud, S. (1930/2006). Das Unbehagen in der Kultur. Fischer.


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