Fußballfans gelten traditionell als monogam: „Ich bereue diese Liebe nicht“ oder „ELIL: Einmal, Löwe immer Löwe„. Doch die Empirie zeichnet ein komplexeres Bild: Viele Fans leben eine polyamore Affektökonomie, in der neben dem Herzensverein weitere emotionale Bindungen existieren. Diese Mehrfachloyalitäten sind kein Verrat(?), sondern eine strategische Erweiterung des emotionalen Spektrums, die soziale Identität bereichert und Affekte verteilt. Luhmann (1992) würde sagen, die Affekte bewegen sich entlang des binären Codes von Sieg oder Niederlage – oder eines Unentschieden, das sich stets wie ein Sieg oder eine Niederlage anfühlt – verteilt.
Mein bislang intensivstes Affekterleben war der Fast-Abstieg des Clubs in die Dritte Liga (2020). Das Hinspiel in Nürnberg gewann der Club mit 2:0. Beim Rückspiel – beides mal vor von Corona entleerten Kurven und Geraden – Lag der Club in der 90. Minute 0:3 zurück, als Fabian Schleusener in der letzten Minute der Nachspielzeit das erlösende 1:3 schoß. Die damals noch geltende Auswärtstorregel rettete den Club vor „dem Nichts der Dritten Liga“. Wieder einmal fiel bei den Kommentatoren der Satz, es sei unfassbar, was dieser Verein seinen Fans zumutet. Selbst Mitglied des Vereins war ich erst drauf und dran, meine Fanschaft beenden zu wollen, nur um wenige Minuten später den Klassenerhalt wie einen Championsleague-Titel zu feiern.
Und auch in der aktuellen Saison gab sich der Club bis zum 6. Spieltag wieder alle Mühe, seinem Ruf und Schicksal(?) als „Depp“ Folge zu leisten. Nur 1 Punkt und 2 Tore in 5 spielen. Ich beschloss, meine Affekte auf mehrere Vereine zu verteilen, die dem Profil des Club ähneln und mir gefallen könnten. Am 6. Spieltag schließlich wurde ich erlöst, als die Sieglos-Serie riss.
Die Vereine, deren Fans und Fankulturen ich untersuche, sind:
Deutschland
- 1.FCN Frauen, weil sie anders als die „Herren“ wieder erstklassig spielen.
- 1.FCN U23, weil sie anders als die „Erwachsenen“ diese Saison mit einem wahren Punkterausch begannen.
- SpVgg Bayreuth, weil die Oldschdod meiner Geburtsstadt Pegnitz, Oberfranken am nächsten ist.
- FC St. Pauli, weil es der einzige Verein ist, bei dem Diversity scheinbar zur DNA gehört.
- SSV Jahn Regensburg, weil wir Franken die Oberpfälzer zwar nicht unbedingt schätzen und umgekehrt. Regensburg aber ist eine Stadt, die ich mit vielen wundervollen Erinnerungen verbinde. Zudem gefällt mir die zelebrierte Rolle des Underdogs (hoffentlich bald wieder in der 2.BL) sehr.
Europa
- FC Südtirol, weil ich seit vielen Jahren mit meiner Familie in dieser Region Urlaub mache und ich diese (Fußball-)Region mit ihrem Lokalpatriotismus zwischen Österreich, Deutschland und Italien soziologisch besonders spannend finde.
- Bologna FC, weil es eine liberale Universitätsstadt ist, deren Name als Reform die europäische Universitätslandschaft nachhaltig verändert hat.
- AS St.Etienne, weil der Verein nach ersten Recherchen als klassischer Arbeiterverein gilt, dessen Fankultur stark von sozialer Tradition, Arbeiteridentität geprägt ist.
- IFK Göteborg, weil es ein Verein mit typisch skandinavischer, sozialliberaler Prägung ist und ich die schwedische Sprache lerne. Schweden ist (m)ein Sehnsuchtsort.
- Brøndby IF, aus ähnlichen Gründen und weil ich in Dänemark mit einem anderen Teil meiner Familie viele schöne Tage verbracht habe.
- Dublin Bohemians, weil ich Irland im Rahmen privater und beruflicher Besuche lieben gelernt habe; und weil sie das irische Pendant zum FC St. Pauli sind; und weil mich der Name an die Burgruine Böheimstein (Pegnitz) erinnert.
Großbritannien
- Crystal Palace, weil es ein Verein ist, der gegen die zunehmende Gentrifizierung Londons arbeitet (und es nicht Mancherster City oder Liverpool ist, die mich mehr an den FC Bayern als an den FCN erinnern).
Asien
- Urawa Red Diamonds, weil sie von meiner programmierten KI-Fußballsoziologin als asiatisches Pendant zum FCN empfohlen wurden. Zudem werde ich nach Möglichkeit auch Vergleiche zum Fußball außerhalb Europas ziehen.
Afrika
- Orlando Pirates, weil auch Sie von KI Fußball-Soziologin nach meinen Vorgaben empfohlen wurden. Auch sie erinnern mich an den FCN und an den FC St. Pauli. Zudem lohnt es, eine postkoloniale Perspektive ins Projekt zu integrieren.
Hurling
- GAA Galway, weil ich diese Stadt liebe und weil es mich – kontrastierend zur Kommerzialisierung des Fußballs – fasziniert, dass dieser irische Nationalsport (scheinbar?) ohne Millionentransfers und -spielergehälter Stadien im Ausmaß der Allianz Arena füllt.
Norbert Elias (1986) könnte in meinem Fan-Verhalten eine Form der Ausbalancierung von Affekten erkennen: Fans verteilen ihr Leiden auf mehrere Vereine und schaffen sich ein emotionales Sicherheitsnetz. Wer den Schmerz der Abstiege mit dem 1. FC Nürnberg erlebt, kann sich gleichzeitig am Jubel über ein Tor des FC St. Pauli oder der Bohemians Dublin aufrichten. Pierre Bourdieu (1992) würde dieses Phänomen vielleicht als Habitus-Strategie auf dem Fußballfeld bezeichnen: Mehrfachbindungen nähren das kulturelle und symbolische Kapital des Fans. Hartmut Rosa (2016) könnte es als Resonanzachsen, die sich nicht auf ein Objekt beschränken: Je vielfältiger die Resonanzbeziehungen, desto größer die Chance, dass das Subjekt die Welt als positiv antwortend erfährt.
Giulianotti (2002) – ein Klassiker der Sportsoziologie – würde mich in meiner Polyamorie wohl irgendwo zwischen Fan (Liebe, Glaube, Leidenschaft) , Supporter (lokal verwurzelt, treu) und Follower (global orientiert, distanzierter) verorten.
Mich interessiert als teilnehmender Beobachter, ob und wie andere Fans eine solche Hybridform aus fußballerischem Lokalpatriotismus und globaler Weltoffenheit pflegen und affektiv erleben. Ich bin gespannt und neugierig, wie andere Fans ihre Affekte rational(?), also ökonomisch lieben, erleiden und verteilen.
Zudem interessiert mich, wie Fans zu ihrem Verein/ihren Vereinen finden und umgekehrt. Mit besonderem Interesse verfolge ich daher seit geraumer Zeit die Wochenend-Rebellen. Vater und Sohn (Juterczenka 2017) – gerne würde ich sie im Rahmen des Projekts interviewen – haben mich u.a. maßgeblich zu diesem Projekt motiviert.
Aus dem Forschungstagebuch:
Polyamore Fanbeziehungen
Identifikation von Idealtypen und Mustern der Mehrfachloyalität: Welche kulturellen, politischen oder biografischen Faktoren prägen die Wahl der Haupt- und Nebenlieben? Gibt es typische Affekt-Portfolios (z. B. Traditionsklub + kulturell interessanter Verein + globaler Top-Klub)?
Transnationale Effekte
Wie prägen Bezüge zu Vereinen wie Liverpool oder Orlando Pirates (Südafrika) die lokale Affektbindung? Führt globale Vernetzung zu einer Relativierung oder Bereicherung der Heimatvereins-Liebe?
Affekt-Ökonomie
Werden Emotionen verteilt oder entstehen durch Mehrfachbindungen neue Qualitäten der Leidenschaft? Ist Polyamorie ein Privileg (Zugang zu Streaming, Reisen) oder eine kulturelle Praxis jenseits soziaer Ungleichheiten in der modernen Fußballwelt?
Identitätskonstruktion
Wie spiegeln sich in Mehrfachbindungen migrantische, feministische oder queere Biografien oder politische Überzeugungen wider?
Persönliche Reflexion & empirische Anknüpfung
Neben dem Club haben vor allem die Bohemians mein Herz erobert. Und ich freue mich auf das Interview mit meinem guten Freund und vormaligen Kollegen K., geboren in Ghana, in München zu Hause: Wie wurde er Fan von Liverpool und (ausgerechnet 😉 ) der Bayern und was verbindet er mit diesen Vereinen? Welcher/n Nationalmannschafte/n drückt er die Daumen. Eine ähnliche Frage stellte ich bereits einem Fan und Amateurfußballer in Südtirol.
Für mich selbst ist Polyamorie ist kein Verrat sondern Ausdruck einer positiven pluralen Identität. Welchen Logiken und Gefühlspfaden folgt die Liebe eins Fans (Tradition?, Kultur?, Politik?, Familie?, Freunde? oder anderen Aspekten der Biografie?)
Literaturverzeichnis
Bourdieu, P. (2008). Die Regeln der Kunst. Frankfurt: Suhrkamp.
Elias, N. (1991). Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt: Suhrkamp.
Giulianotti, R. (2002). Supporters, followers, fans, and flaneurs. Journal of Sport & Social Issues, 26(1), 25–46.
Luhmann, Niklas (2012): Liebe als Passion. Frankfurt: Suhrkamp.
Rosa, H. (2016). Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt: Suhrkamp.
Aus dem Forschungstagebuch:
Empirische Vertiefung
- Fan-Biografien im Spiegel von Migration
- Die Bedeutung von „Diaspora“ in Fanszenen
- Wie kommt es parallel zur Liebe zur Abneigung gegenüber anderen Vereinen. z.B. Westvorstadt (Lieber Fünfter als Fürther), Schickeria (FC Bayern: Euer Hass ist unser Stolz)
Theoretische Erweiterung
- Post- / Anti-Koloniale Perspektiven auf Fandom
- Digitale Polyamorie: Streaming vs. Reisen
These
Fußball-Polyamorie: das Leben als globaler Wochenend-Rebell ist (k)ein Luxus?!

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