Ich liebe die Bindestrich-Power der Soziologie: Arbeits-, Technik-, Wissens-, Stadt-, Emotions-, Kultur-, Organisations-, Risiko- und Zeitsoziologie. Mit jedem Bindestrich erweitert sich der Blick, spiegeln sich alle sozialen Themen und Nachbardisziplinen. Die Soziologie hat sich zum Kompass in meinem Leben entwickelt (siehe auch meine Kompass-Reihe)

Die Soziologie war nie „nur“ eine Wissenschaft. Schon die Klassiker verbanden praktische soziale Perspektiven mit ihr:
Webers Idealtypen sind Brückenmodelle (Weber 1922/1980), Simmels „Wechselwirkungen“ machen Mikro- und Makroordnungen sichtbar (Simmel 1908/1992), Durkheims kollektive Ekstasen zeigen die soziale Kraft von Ritualen (Durkheim 1912/2001). Moderne und postmoderne Ansätze führen das fort – von Bourdieus Feld- und Habituslogik (Bourdieu 1992) über Goffmans Bühnen (Goffman 1959) und Foucaults Macht/Wissen (Foucault 1977) bis zu Rosas Resonanz (Rosa 2016), Butlers Performativität (Butler 1990), Frasers Gegenöffentlichkeiten (Fraser 1990) und Latours Akteur-Netzen (Latour 1991/1995). Bindestriche sind nicht nur Etiketten; sie sind eine Methode des Verbindens, Durchdenkens und Reflektierens.
Reflexive Soziologie
Bourdieus reflexive Soziologie mahnt, den eigenen Standort mitzudenken (Bourdieu 2001); Meads symbolischer Interaktionismus erinnert uns daran, immer auch den:die Anderen mitzudenken (Mead 1973); Haraway erinnert an situiertes Wissen (Haraway 1988). In der Praxis heißt das: Ich schreibe im Ich, markiere meine Perspektive und mache aus der Bindestrich-Collage keinen Eklektizismus, sondern einen methodischen Dialog. Na, der Satz klingt doch schon fast ein wenig Luhmann-like (1987)
Methode
Ursprünglich komme ich aus der quantitativ-statistischen Welt der Soziologie. Erst mit meiner Dissertation habe ich die Grounded Theory für mich als qualitative Methode neu entdeckt. Und seitdem KI es ermöglicht, quasi unbegrenzte Mengen an qualitativen Daten auszuwerten, zu systematisieren und kodieren arbeite ich damit leidenschaftlich-iterativ. Ich lasse Kategorien aus dem empirischen Material – das zu Erforschende ist dabei Subjekt und nicht Objekt – wachsen und verknüpfe qualitative „Tiefenbohrungen“ mit digitalen/literalen Scans. Die Bindestrich-Power ist so nicht nur ästhetische Theorie, sondern praxis- und damit gesellschaftsnahes Forschungsdesign. (Glaser & Strauss 1967; Charmaz 2014).
Literatur
- Bourdieu, P. (1992). Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp. (Suhrkamp Verlag)
- Bourdieu, P. (2001). Science de la science et réflexivité. Raisons d’agir. (raisonsdagir-editions.org)
- Butler, J. (1990). Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. Routledge. (Routledge)
- Charmaz, K. (2014). Constructing Grounded Theory (2nd ed.). Sage. (collegepublishing.sagepub.com)
- Durkheim, É. (2001). Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Suhrkamp. (Original 1912). (Suhrkamp Verlag)
- Foucault, M. (1977). Überwachen und Strafen. Suhrkamp. (Suhrkamp Verlag)
- Fraser, N. (1990). Rethinking the Public Sphere. Social Text, 25/26, 56–80. (JSTOR)
- Glaser, B. G., & Strauss, A. L. (1967). The Discovery of Grounded Theory. Aldine. (Taylor & Francis)
- Goffman, E. (1959). The Presentation of Self in Everyday Life. Doubleday. (Google Bücher)
- Habermas, J. (1992). Faktizität und Geltung. Suhrkamp. (Suhrkamp Verlag)
- Haraway, D. (1988). Situated Knowledges. Feminist Studies, 14(3), 575–599. (JSTOR)
- Latour, B. (1995). Wir sind nie modern gewesen. Suhrkamp. (Frz. 1991). (Suhrkamp Verlag)
- Lefebvre, H. (1991). The Production of Space. Blackwell. (Frz. 1974). (wiley.com)
- Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme. Suhrkamp. (Suhrkamp Verlag)
- Luhmann, N. (2000). Organisation und Entscheidung. Westdeutscher Verlag. (SpringerLink)
- Rosa, H. (2016). Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp. (Suhrkamp Verlag)
- Santos, B. de S. (2024*). The End of the Cognitive Empire. Duke University Press. (*Erstauflage 2018; Verlagsseite führt die Publikation seit 2018.) (dukeupress.edu)
- Simmel, G. (1992). Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Suhrkamp. (Original 1908). (PUB Bielefeld)
- Simmel, G. (1995). Die Großstädte und das Geistesleben. In Aufsätze und Abhandlungen. Suhrkamp. (Original 1903). (Projekt Gutenberg)
- Weber, M. (1980). Wirtschaft und Gesellschaft (5. Aufl.). Mohr Siebeck. (Original 1922). (Unifr Admin)

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