Hapoel Tel Aviv ist mehr als ein Fußballklub. Er ist ein historischer Marker für die Arbeiter- und Linkstradition im israelischen Fußball – und zugleich ein Prisma, durch das sich Konfliktlinien zwischen Politik, Religion und Stadienkultur brechen. In Tel Aviv, einer Stadt mit globalem LGBTQ-Image, bleibt die Kurve erstaunlich heteronormativ; „queer“ erscheint oft nur als abwesende Präsenz. Genau diese Spannung – linke Symbolik, säkularer Stadtraum, aber wenig sichtbare Queerness – macht Hapoel für unser Projekt aufschlussreich.

Worum es mir hier geht
Hapoel Tel Aviv bietet als Bühne drei überlagerte Deutungsachsen: (1) Politik – Hapoel/Histadrut-Erbe und linke Ultras-Ästhetik; (2) Religion – wiederkehrende Auseinandersetzungen um Schabbat-Spieltermine; (3) queere Unsichtbarkeit – trotz Tel Avivs Pride-Normalität fehlt im Stadion oft die explizite Sichtbarkeit. Jede Achse strukturiert, wer als „wir“ gilt, welche Zeichen tragbar sind und welche Affekte legitim erscheinen.
Politik: Hapoel als linke Ikone
Historisch ist Hapoel eng mit der Gewerkschaftsbewegung (Histadrut) und sozialistisch-zionistischen Strömungen verknüpft; die heutige Ultra-Szene zeigt offen linke, teils antifa-Codes und pflegt transnationale Freundschaften mit ähnlich positionierten Kurven (u. a. St. Pauli, Standard Liège, Omonia). Diese Politisierung erzeugt Zugehörigkeit – und Konflikte im nationalen Kontext.
Religion: Der Schabbat als Strukturkonflikt
Regelmäßig flammen politische Debatten um Spiele am Schabbat auf (Klagen, Ministerbriefe, gerichtliche Rügen). Für die Feldforschung sind diese Aushandlungen wichtig, weil sie Zeit und Teilnahme strukturieren – wer darf kommen, wer fühlt sich ausgeschlossen, wie reagieren Vereine?
Queere Unsichtbarkeit im sichtbar-liberalen Stadtraum
Tel Aviv gilt als LGBTQ-freundlich, doch sportpolitische Analysen und Berichte zeigen: Es gibt auf nationaler Ebene (noch) keine konsistente staatliche Sportpolitik für LGBTQ-Inklusion; Verbände reagieren punktuell (z. B. Verbote homofeindlicher Sprechchöre), die Umsetzung bleibt wechselhaft. „Unsichtbarkeit“ heißt hier: wenige Regenbogen-Marker in den Kurven, kaum geoutete Aktive, sporadische Sanktionen – und eine Normalform von Männlichkeits-Performanz, die non-konforme Zeichen eher marginalisiert.
Aktueller Kontext: Derbys, Bloomfield & Affekte
Hapoel und Maccabi teilen das Bloomfield-Stadion (29 400 Plätze) – ein „gemeinsamer“ Raum, der Rivalität verdichtet. Jüngst wurde das Tel-Aviv-Derby (19. Oktober 2025) wegen massiver Ausschreitungen abgebrochen/abgesagt. Für unsere Analyse heißt das: Politische, urbane und affektive Spannungen verdichten sich im Event-Format „Derby“ und prägen die Deutung von Ordnung/Abweichung, „wir/die“.
Arabisch-israelische Fußballkultur
Die arabisch-israelische Fußballkultur bewegt sich seit Jahren zwischen Sichtbarkeit und struktureller Randstellung: Vereine und Fanszenen dienen zwar als Integrationsorte, stehen aber zugleich in einem Umfeld, in dem rassistische Sprechchöre und unklare Durchsetzungslinien zugenommen haben—aktuelle Monitoring-Berichte dokumentieren einen markanten Anstieg solcher Vorfälle in israelischen Stadien. (גבעת חביבה – המרכז לחברה משותפת) Für palästinensischen Fußball jenseits der „Grünen Linie“ verschärfen sich die Hürden durch Bewegungs- und Genehmigungsregime: Spieler:innen und Teams stoßen regelmäßig auf Reisebeschränkungen zwischen Gaza, Westjordanland und Jerusalem, was Trainings- und Spielbetrieb sowie internationale Einsätze erschwert. In Gaza kommt hinzu, dass zentrale Sportstätten—darunter historische Stadien—massiv beschädigt oder zerstört wurden; die Wiederaufbaufrage ist damit nicht nur sportlich, sondern politisch aufgeladen. (Institute for Palestine Studies) Zwar hat die FIFA jüngst Unterstützung für den Wiederaufbau angekündigt, doch bleibt die Lage insgesamt fragil und von der größeren Konfliktdynamik abhängig. (Reuters) In Summe entsteht ein Feld, in dem Fußball für arabische Israelis wie für Palästinenser:innen zugleich Ressource der Selbstbehauptung und Bühne erlebter Marginalisierung ist—eine Ambivalenz, die Tamir Soreks Arbeiten bereits vor Jahren als „integratives Enklaven“-Prinzip beschrieben haben.
Vorläufiges Codebuch (Ausschnitt)
- POL-LINKS (linke Selbstpositionierung, antifa-Iconografie, „Tel-Aviv-first“ statt Staatsframe).
- REL-ZEIT (Schabbat-Aushandlungen, „Zeitgerechtigkeit“, Teilnahmebarrieren).
- QUEER-VIS (sichtbare Rainbow-Marker, Ally-Signale, Gegenreaktionen).
- QUEER-SILENCE (fehlende Marker, „Don’t ask/Don’t show“, ironische Entschärfung).
- ENF-GAP (Lücke zwischen Verbot & Durchsetzung: Chants, Sanktionen, Reporting).
Mini-Vignette (heuristisch)
Gate 5. Rote Fahnen, Arbeiter-Symbole, antifa-Sticker. Ich suche den Regenbogen – finde ihn nur auf einer Jacke, klein am Reißverschluss. Die Kurve singt gegen die „anderen“, der Beat trägt; die Jacke bleibt zu.
Erste Hypothesen (GT-offen, falsifizierbar)
- H1 (Politik): Je stärker die linke Selbstmarkierung, desto eher wird nationale Symbolik durch städtische/klassenspezifische Frames ersetzt – und damit queere Sichtbarkeit als „nicht kernrelevant“ de-priorisiert.
- H2 (Religion): Schabbat-Aushandlungen verschieben Zugehörigkeiten zeitlich: Wer religiös gebunden ist (Fans/Spieler:innen), erlebt exkludierende Taktungen – unabhängig von Klubpräferenz.
- H3 (Queer): In Tel Aviv existiert eine Sichtbarkeitskluft zwischen Stadt und Stadion: Pride-Normalität im urbanen Raum, reduzierte Marker in der Kurve (affektive Männlichkeitsnormen, fehlende Vereinsprogramme).
- H4 (Enforcement): Steigende Dokumentation von (rassistischen/queerfeindlichen) Chants bei zugleich schwankender Sanktionierung stabilisiert „Unsichtbarkeit“ als Coping-Strategie.
Feldplan
- Beobachtung (Heim/Derby): Markerzählung (Rainbow-Signs, Gegenbanners, Capo-Ansagen), Timing/Schabbat-Effekte.
- Interviews: Linke Ultras, „leise“ Fans, Sicherheits-/Ordnungskräfte, Community-Akteur:innen (KIO/NGOs).
- Artefakte: Sticker, Graffiti, Social-Posts; Abgleich mit KIO-Reporting und IFA-Regeln zu homophoben Chants.
Leitfragen
- Wo kollidiert linke Solidaritätsrhetorik mit queerer Sichtbarkeit im Stadion?
- Wie beeinflussen Schabbat-Aushandlungen Zugehörigkeit und Anwesenheit konkret?
- Welche Gegen-Praktiken (Ally-Zonen, Ansagen, Fan-Absprachen) schaffen sichere Sichtbarkeit?
- Was leisten KIO/IFA-Instrumente faktisch – und wo klafft die Umsetzungslücke?
Literatur & Links
Sorek, T. (2019). Hapoel Tel Aviv and Israeli Liberal Secularism. In: Sport, Politics and Society in the Middle East. Oxford University Press. OUP-Kapitel
Cambridge University Press (Hrsg.). Tamir Sorek: Arab Soccer in a Jewish State. Cambridge Core
Progressive Israel. The Politics of Israeli Soccer: A Guide for the Perplexed. Hintergrund
Knesset Research & Information Center (2024). Sports and LGBTQ+ in Israel: Policies and Responses. Policy-Brief (PDF)
Jerusalem Post (2020). IFA announces ban on homophobic chants. Bericht
Givat Haviva / KIO (2025). Racism & Violence Report 2024/25. Bericht (PDF)
Ynet (2025). 71 % mehr rassistische Chants in der Saison 24/25. Artikel
Times of Israel / The JC / Ynet (2015–2022). Debatten um Fußball am Schabbat. ToI · The JC · Ynet
Bloomfield Stadium (Kapazität/Teilenutzung). Übersicht · Betreiberhistorie Sport Palaces Tel Aviv

Schreibe einen Kommentar