Grounded Theory Übung 6: Vom Modell zur Theorie

in der S-Bahn, Mensa, Stadion,…
Zeitbedarf: 25–35 Min. Material: Ergebnisse aus Übung 1–5 (Kategorien, Beziehungen, Mini-Theorie, Modellskizze), Notizbuch oder digitales Whiteboard. Ziel: Ich entwickle aus meinem bisherigen Modell eine erste theoretische Integration – eine „kleine Theorie“ im Sinne von Glaser & Strauss (1967), die Zusammenhänge erklärt, prüfbar bleibt und über Einzelfälle hinausweist. Dabei greife ich auf mein bisheriges Kodier-, Memo- und Reflexionsmaterial zurück und arbeite nach den Standards des Methoden-Rings (Audit-Trail, QA-Check, Bias-Reflexion)
Schritt 1 – Kernkategorie in Beziehung setzen (5 Min.)
Ich überprüfe meine bisherige Kernkategorie aus Übung 5: Was erklärt sie – und was nicht? Welche anderen Kategorien stehen in logischer, zeitlicher oder kausaler Beziehung dazu? Ich notiere diese Beziehungen als theoretische Codes (z. B. „führt zu“, „hemmt“, „bedingt“). Beispiel: „Affektive Solidarität stärkt Regel-Aushandlungen, solange Kontrollniveau niedrig bleibt.“
Schritt 2 – Vergleich auf höherer Ebene (8 Min.)
Ich ziehe nun mindestens zwei andere Fallkontexte (z. B. andere Vereine oder Datensätze) heran und prüfe, ob meine Kernkategorie dort ebenfalls trägt. Ziel: Abstraktion – von der Empirie-Ebene zur konzeptionellen Ebene. Ich markiere Unterschiede und Erweiterungen (z. B. „Affektive Solidarität – politisch gerahmt“ vs. „Affektive Solidarität – ökonomisch instrumentalisiert“).
Schritt 3 – Theoretische Kodierung (8 Min.)
Ich formuliere zwei bis drei theoretische Sätze, die mein entstehendes Modell erklären. Beispiele:
- „Wenn kollektive Affekte kontrolliert freigesetzt werden, entsteht Resonanz, aber keine Anomie – unter der Bedingung gegenseitiger Anerkennung.“
- „Polyamorie in Fankulturen stabilisiert Zugehörigkeit durch Affekt-Diversifizierung – unter digitalen Bedingungen.“
Diese Sätze werden später zu Bausteinen meiner mittleren Theorie (middle-range theory nach Merton und Glaser & Strauss 1967).
Schritt 4 – Integration
Ich verknüpfe meine empirisch generierten Kategorien mit bestehenden theoretischen Konzepten:
- Elias (1986): Affektkontrolle – Wie greift sie in mein Modell ein?
- Bourdieu (1992): Habitus – Welche habituellen Muster zeigen sich?
- Charmaz (2014): Konstruktivistische GT – Wie entsteht Bedeutung im Dialog mit dem Feld?
Ich notiere, wo meine Daten bestehende Theorien stützen, erweitern oder widersprechen.
Schritt 5 – Reflexion & Audit-Trail (6 Min.)
Ich halte in meinem Forschungsjournal fest, welche Entscheidungen ich getroffen habe und warum (z. B. „Warum wählte ich Elias statt Freud?“). Ich füge ein Bias-Statement hinzu (reflexions-Ring: „Welche eigene Erfahrung beeinflusste meine Theorie?“) und aktualisiere den Audit-Trail.
Qualitative Dokumentation
- 3 – 5 theoretische Sätze (mit Bedingungen und Beispielen),
- 1 Diagramm (z. B. Beziehungs-Map oder Prozessmodell),
- 1 Memo zur Integration mit bestehender Theorie,
- 1 Reflexionsabschnitt („Was lernte ich über meine eigenen Annahmen?“).
Fiktives Sprachmuster (heuristisch; wird empirisch geprüft)
„Wenn Fans nach Niederlagen kollektiv schweigen, entsteht nicht Leere, sondern Verdichtung: Ein geteiltes Wissen über Schmerz als soziale Währung.“
Leitfragen für die Selbstreflexion
- Welche meiner Kategorien könnten Theorie-Status erreichen – und warum?
- Wo zeigen sich Grenzen meiner Datenbasis (zeitlich, sozial, emotional)?
- Welche theoretischen Konzepte haben sich bewährt, welche nicht – und warum?
- Wie ändert sich mein Verständnis von „Theorie“ nach fünf Übungen praktischer GT-Arbeit?
Literatur (APA 7)
- Berger, P. L., & Luckmann, T. (1966). The social construction of reality: A treatise in the sociology of knowledge. Anchor Books.
The social construction of reality: A treatise in the sociology of knowledge. (Suhrkamp Verlag) - Charmaz, K. (2014). Constructing grounded theory (2nd ed.). Sage.
Constructing grounded theory. (Sage College Publishing) - Corbin, J., & Strauss, A. (2015). Basics of qualitative research: Techniques and procedures for developing grounded theory (4th ed.). Sage.
Basics of qualitative research: Techniques and procedures for developing grounded theory. (Sage College Publishing) - Glaser, B. G. (1978). Theoretical sensitivity: Advances in the methodology of grounded theory. Sociology Press.
Theoretical sensitivity: Advances in the methodology of grounded theory. (sociologypress.com) - Glaser, B. G. (1992). Basics of grounded theory analysis: Emergence vs. forcing. Sociology Press.
Basics of grounded theory analysis: Emergence vs. forcing. (sociologypress.com) - Glaser, B. G., & Strauss, A. L. (1967). The discovery of grounded theory: Strategies for qualitative research. Aldine.
The discovery of grounded theory: Strategies for qualitative research. (Taylor & Francis) - Elias, N. (1986). Über den Prozeß der Zivilisation. Suhrkamp.
Über den Prozeß der Zivilisation. (Suhrkamp Verlag) - Rosa, H. (2016). Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp.
Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung. (Suhrkamp Verlag) - Wenn du zusätzlich lokale Buchhandelslinks (genialokal) oder Bibliotheks-Permalinks pro Titel möchtest, sag Bescheid – ich ergänze sie passend zur SFB-Policy.
Diese Übung bildet die Brücke vom empirischen Modell zur theoretischen Verdichtung.

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