Grounded Theory Übung 5: Von der Mini-Theorie zum konzeptionellen Modell
in der S-Bahn, Mensa, Stadion,…
Zeitbedarf: 25–30 Min. Material: Ergebnisse aus Übung 1–4 (Codes, Kategorien, Beziehungsskizzen), Notizbuch oder digitales Pad, optional Karteikarten. Ziel: Ich entwickle aus meinen bisherigen Kategorien ein konzeptionelles Modell, das eine übergreifende Logik oder Prozessstruktur beschreibt. Ich bewege mich damit vom „Grounded Data“ hin zu einem kohärenten theoretischen Erklärungsrahmen (Charmaz 2014; Corbin & Strauss 2015; Clarke 2012).
Schritt 1 – Kernkategorie bestimmen (5 Min.)
Ich durchsehe meine bisherigen Kategorien und frage: Welche Kategorie verbindet oder erklärt die anderen am besten? Sie ist weder „größer“ noch „wichtiger“, sondern strukturell zentral (Glaser 1978). Ich markiere sie als Kernkategorie (z. B. Affekt-Regulations-Kette oder Interaktive Regelproduktion).
Schritt 2 – Prozesslogik entfalten (7 Min.)
Ich beschreibe, wie meine Kernkategorie über Zeit oder Situation hinweg wirkt: Welche Phasen, Übergänge oder Wendepunkte sind erkennbar? Ich nutze kurze Satzcluster (z. B. „Initiales Chaos → Beobachten → Synchronisieren → Stille Ordnung → Formalisierung“). Diese Prozesslogik darf vorläufig, widersprüchlich oder unvollständig sein – entscheidend ist das Erkennen der Bewegung.
Schritt 3 – Bedingungen und Dynamiken kartieren (5 Min.)
Ich liste die wichtigsten Einflussfaktoren, die meinen Prozess beschleunigen, hemmen oder umkehren können:
- Strukturelle Bedingungen: Raum, Dichte, Regeln, Hierarchien
- Affektive Bedingungen: Stimmung, Unsicherheit, Gruppendruck
- Kulturelle Bedingungen: implizite Normen, Rollenerwartungen
Ich markiere, welche davon empirisch belegt sind – und welche noch geprüft werden müssen.
Schritt 4 – Mini-Theorie formulieren (10 Min.)
Ich schreibe 10–12 Sätze im Stil einer „narrativen Mikro-Theorie“ (Charmaz 2014):
„In Situationen mit unklaren Regeln (Bedingung) entsteht zunächst Desorientierung. Durch Blicke-Synchronisieren und Regel-Aushandeln stabilisieren Akteur:innen eine temporäre Ordnung. Diese Ordnung hält, solange kollektive Affekte geteilt werden. Sobald formelle Autorität eingreift, kippt sie in formalisierte Routine. Daraus lässt sich eine affektive Prozesslogik der situativen Regelproduktion ableiten.“
Schritt 5 – Modellskizze (5 Min.)
Ich visualisiere meine Mini-Theorie als Diagramm (Kreise, Pfeile, Übergänge). Ich markiere zentrale Übergänge („Trigger“) und Rückkopplungen („Feedback“). Ziel ist kein schöner Plot, sondern eine visuelle Denkstruktur, die als Gesprächsbasis dient.
Qualitative empirische Dokumentation
- Kernkategorie mit Kurzdefinition,
- Prozesslogik (Stichworte oder Flow-Chart),
- Liste der Bedingungen (3–5 Belege + 1 offene Frage),
- 10–12-Satz-Mini-Theorie,
- 1 Prozessdiagramm oder Concept Map.
Fiktives Sprachmuster (heuristisch; wird empirisch geprüft)
„Sobald die Gruppe Orientierung verliert, entstehen mikrosoziale Strategien der Regelproduktion. Das wiederholte Blicke-Synchronisieren wirkt wie ein affektives Radar. Wird Ordnung formalisiert, wandelt sich Affekt in Routine – und die Gruppe verliert ihre spontane Dynamik.“
Forschungstagebuch
Ich schreibe 2–3 Sätze zu meiner Erkenntnisentwicklung: Welche Idee kam aus den Daten, welche aus meinem Vorwissen? Wie merke ich, dass meine Theorie beginnt, zu erklären, statt nur zu beschreiben?
Leitfragen für die Selbstreflexion
- Was unterscheidet meine Mini-Theorie von einer bloßen Zusammenfassung?
- Welche empirischen Beobachtungen stützen oder widerlegen meinen Prozessverlauf?
- Wo zeigen sich Zyklen oder Feedbackeffekte?
- Wie könnte ich meine Theorie in einer anderen Szene (Fußballstadion, Mensa, Protest) prüfen?
Literatur (APA)
- Charmaz, K. (2014). Constructing grounded theory (2nd ed.). Sage. Constructing grounded theory
- Corbin, J., & Strauss, A. (2015). Basics of qualitative research: Techniques and procedures for developing grounded theory (4th ed.). Sage. Basics of qualitative research: Techniques and procedures for developing grounded theory
- Glaser, B. G. (1978). Theoretical sensitivity: Advances in the methodology of grounded theory. Sociology Press. Theoretical sensitivity: Advances in the methodology of grounded theory
- Clarke, A. E. (2012). Situationsanalyse: Grounded Theory nach dem Postmodern Turn. Springer VS. Situationsanalyse: Grounded Theory nach dem Postmodern Turn
- Glaser, B. G., & Strauss, A. L. (1967). The discovery of grounded theory: Strategies for qualitative research. Aldine. The discovery of grounded theory: Strategies for qualitative research
Diese Übung markiert den Übergang von der deskriptiven zur erklärenden Phase der Grounded Theory. Hier entsteht die erste theoretische Dichte – der Moment, in dem empirische Beobachtungen beginnen, konzeptionell zu sprechen.


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