3.3.6 Dekolonialisierte (Gegen-) Öffentlichkeiten

Hinführung: Warum „dekolonial“ im Fußball?

Fußball ist ein auch ein soziales Feld, in dem koloniale, neokoloniale, postkoloniale, antikoloniale Konfliktlinien bis heute Affekte, Sichtbarkeit und Ressourcen verteilen. Wer spricht? Wer wird gehört? Wer profitiert? Mit Fraser frage ich nach subalternen Gegenöffentlichkeiten, die hegemoniale Arenen herausfordern (Fraser, 1990). Im Sinne de Sousa Santos denke ich über so etwas wie kognitive Kolonisierung nach – über die Frage, wessen Wissen im Fußball zählt und wessen Stimmen und Stimmungen systematisch marginalisiert werden (Santos, 2018). Diese Perspektive ist im Projekt verankert und rahmt die Fallarbeit vor allem auch zu internationalen Vereinen, Fanmilieus und Medienpraktiken.

Begriffsklärung: Von kolonialer zu dekolonialer Öffentlichkeit

  • Kolonialität der Macht (Quijano): Auch nach formaler Entkolonialisierung wirken Hierarchien in Ökonomie, Kultur und Wissensordnung fort – im Fußball z. B. durch Transfermärkte, Talentscouting, Medienrechte.
  • Dekoloniale Gegenöffentlichkeit: Praktiken, in denen Fans, Spieler:innen und Medienakteur:innen epistemische Ungleichheiten thematisieren und alternative Öffentlichkeiten aufbauen – lokal, diasporal, transnational (Fraser, 1990; Mignolo 2007).
  • Affekt & Kontrolle: Sichtbarkeit ist immer affektiv vermittelt. Wer jubeln, klagen, protestieren darf, wird politisch verhandelt (Elias 1986; Dunning 1999).

Drei Arenen dekolonialisierter (Gegen-)Öffentlichkeit

1) Stadion als umkämpfter Resonanzraum

Im Stadion werden koloniale Spuren hörbar: Gesänge gegen Rassismus, Banner gegen Ausbeutung, Choreographien, die Erinnerungskämpfe thematisieren. Mit Fraser gedacht: subalterne Öffentlichkeiten, die Sichtbarkeit erzwingen, um im Mainstream-Publikum Anerkennung und Umverteilung zu verhandeln.

2) Digitale und diasporische Öffentlichkeiten

Jenseits des Stadions entstehen transnationale Soundscapes (Fanzines, Podcasts, Foren), in denen „Diaspora-Fans“ eigene Narrative gegen eurozentrische Leitmedien setzen.: etwa über Talentabwerbung, TV-Geldverteilung, Forderungen nach Fairness im globalen Fußballhandel. Diese Räume nutze ich als Quellen im Projekt (Presseschau-Ring, Datenpipeline).

3) Club-Öffentlichkeiten zwischen Marketing und Emanzipation

Offizielle Kanäle (Clubwebseiten, Social Media, Fan-Zonen) erzeugen und oder verhindern Sichtbarkeit – unterm Strich marktkonform. Gegenöffentlichkeiten spiegeln, parodieren oder „hacken“ diese Formate. Vereinsseiten-Bookmarks (z. B. Orlando Pirates, Urawa Reds, FC Südtirol, St. Étienne) dienen als Anker, um Offizialkommunikation mit fan-nahen Stimmen zu kontrastieren.

Heuristische Typen dekolonialer Praxis (aus laufender GT-Arbeit)

  • Re-Storying: Fans und Spieler:innen schreiben Vereinsgeschichte plural: Kolonialbezüge, Migration, Arbeit, Gender werden rückgebunden in Erzählungen.
  • Affect-Leakage: „Kühl“ konzipierte Corporate-Erzählungen werden durch affektive Fanpraktiken „undicht“ (Proteste, Ironie, Memes).
  • Resource-Claiming: Forderungen nach gerechteren Verteilungsstrukturen (Ausbildungsentschädigungen, mehr Förderung für Frauen- und Mädchenfußball, Safe Spaces).

Mini-Vignette (heuristisch; empirisch zu prüfen)

„Wir schauen Premier-League nachts im Hostel, aber unsere Chants sind in Twi – nicht, weil’s exotisch klingt, sondern weil Fußball sich hier richtig anfühlen soll.“
Label: Fiktives Sprachmuster (heuristisch; dient den Kategorien Re-Storying & Affect-Leakage).

Forschungstagebuch

Ich stelle immer wieder fest, wie stark meine eigene Medienbiografie eurozentriert (z.B. finde ich mich auch auf der englischen Webseite der japanischen Red Diamonds überhaupt nicht zurecht. Es ist eine andere (Bild- und Symbol-)Sprache als die gewohnte. Welche Geschichten halte ich automatisch für „recherchierbar“, welche ignoriere ich? Die Ringe helfen mir, fan-nahe Quellen zu priorisieren und leise Stimmen (Fanzines, Foren) in die Theoriebildung zu heben. Der nächste Schritt: ein systematischer Club–Fan–Diaspora-Dreiklang pro Fallstudie (zuerst St. Pauli, Orlando Pirates, Urawa Reds).

Leitfragen

  1. Wo erzeugen Fans dekoloniale Irritationen im offiziellen Club-Branding – und mit welchen affektiven Mitteln?
  2. Welche Diaspora-Knoten verbinden lokale Kurven mit globalen Öffentlichkeiten (Sprachen, Songs, Memes)?
  3. Wie verschieben sich Anerkennung und Ressourcen, wenn subalterne Öffentlichkeiten anhaltend Resonanz erzeugen?

Literatur

  • Fraser, Nancy (1990). Rethinking the Public Sphere: A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy. Social Text, 25/26, 56–80. [JSTOR-Vorschau] (PDF) (fswg)
  • Fraser, Nancy (1990). „Rethinking the Public Sphere“ in Habermas and the Public Sphere (Routledge) – elektronische Version / Kapitelvorschau verfügbar. (Taylor & Francis)
  • Santos, Boaventura de Sousa (2018). The End of the Cognitive Empire: The Coming of Age of Epistemologies of the South. Duke University Press. Verlagsseite mit Inhaltsangabe & Vorschau (dukeupress.edu)
  • Santos, Boaventura de Sousa (2018). The End of the Cognitive Empire (PDF-Ausgabe) (KC Usercontent)
  • Mansbridge, Jane (2017). The Long Life of Nancy Fraser’s “Rethinking the Public Sphere”. In: Bargu, B., Bottici, C. (Hrsg.), Feminism, Capitalism, and Critique. Palgrave Macmillan. (Kapitelvorschau) (SpringerLink)

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