Forschung im Fußballfeld ist nie neutral. Wer in der Kurve steht, singt, leidet oder jubelt, ist Teil des Geschehens – und gerade dadurch in der Lage, dichte Beschreibungen zu liefern. Dieser Beitrag zeigt, wie Positionalität, Affekte und Reflexivität methodisch zusammengehen: Leidenschaft als Motor, Analyse als Geländer. Der Autor dieses Blogs ist teilnehmender Beobachter und forschender Fan.

Hinführung
Anpfiff, das Spiel des 1.FCN gegen X beginnt und plötzlich bin ich mehr als forschender Beobachter: Ich bin Fan. Genau hier beginnt die methodische Arbeit. Anstatt meine Involviertheit zu verstecken, mache ich sie sichtbar und stelle diese Position in den selbstreflexiven Fokus: Wann mich etwas packt, wo ich Partei ergreife, wie sich der Körper meldet. So wird aus Beteiligung kein Bias-Fehler, sondern Datenmaterial (vgl. Charmaz, 2014; Bryant, 2019; Geertz, 1973).
Warum Positionalität zentral ist
- Zugang & Vertrauen: Als Teil der Szene öffnen sich Türen (Interviews, informelle Gespräche, Innenperspektiven).
- Interpretationsreichweite: Insider-Codes, Ironien, Rituale werden schneller verstanden und präziser gedeutet.
- Verantwortung: Sichtbar positionierte Forschende reflektieren Machtbeziehungen (Geschlecht, Klasse, Queerness, Herkunft) und markieren Grenzen – auch dort, wo sie nicht berichten (Ethik-Stopps).
Affekte als Forschungsmaterial
Affekte sind Körperprotokolle: Gänsehaut, Kloß im Hals, der zu frühe Torjubel. Im konstruktivistischen Grounded-Theory-Verständnis werden sie nicht wegerklärt, sondern mitkodiert (Charmaz, 2014):
- Auslöser: Tor, VAR, Banner, Polizeikette.
- Form: Jubel, Schweigen, Spott, Tränen.
- Rahmung: „Tradition“, „Echtheit“, „Ungerechtigkeit“.
Daraus entstehen Vergleichs- und Prozessmemos, die später mit Interviews, Artefakten und Medienberichten trianguliert werden (Bryant, 2019).
Reflexivitäts-Werkzeuge (aktualisiert)
- Forschungsmemos (kurz & zeitnah): Was habe ich gespürt? Welche Begriffe drängen sich auf? Alternative Deutungen notieren.
- Kodieren der eigenen Stimme: Eigene Notizen laufen durch dieselben offenen/axialen/selektiven Codes wie Fremddaten.
- KI als Spiegel („algorithmische Gegenlese“): Suchläufe auf Marker wie Scham, Trotz, „echt/gekauft“; Unterschiede zwischen Eigen- und Fremdmaterial markieren.
- Bias-Budget: Ich notiere offen, wann ich mir Parteinahmen „erlaube“ (z. B. im Derby) – und kompensiere sie durch Gegenbelege/Peer-Debrief.
- Audit-Trail light: Jede wichtige Entscheidung erhält einen Zeitstempel + 1-Satz-Begründung (Warum diese Szene, dieses Zitat, diese Auslassung?).
- Ethik-Check in zwei Stufen: (1) Anonymisierung/Verpixelung, (2) Kontextschutz (keine Rohdaten, keine identifizierenden Mikro-Marker).
Nähe und Distanz balancieren
- Nähe zulassen: Involviertheit eröffnet dichte Einsichten (Gesten, Tonfall, Mikro-Szenen).
- Distanz herstellen: Theorie-Rückbindung (Habitus, Zivilisationsprozess), systematische Gegenbelege, Vergleichsfälle (andere Vereine/Ligen).
- Methodenmix: Teilnehmende Beobachtung × Interviews × Artefaktanalyse × KI-gestützte Mustererkennung.
- Resonanz-Marker: Ich halte kurze „Peak-Memos“ (10–15 Wörter) während der Szene fest; später prüfe ich, ob Interviews dieselben Peaks benennen.
- Gatekeeping-Linien: Drei „rote Linien“ für Nicht-Publizierbares: (1) identifizierbare Verletzlichkeit, (2) laufende Konflikte, (3) Szenecodes, die Schutz benötigen.
- Kontrast-Protokolle: Nach starken Emotionen zwinge ich mich zu einem konträren Deutungsangebot („Was wäre, wenn…?“).
- Double-Entry-Memo: Links Affektspur (Ich-Form), rechts Analysesatz (Sachform) – fördert Trennung von Erleben und Deutung.
Aus dem Forschungstagebuch
Memo „Nachhall“: Nach einer 0:1-Heimniederlage Stille im Block. Notiz: „Stille als Affektkontrolle.“ Später taucht dieselbe Figur im Interview auf: „Nach solchen Spielen redet man nicht – man nickt.“
Memo „Tradition als Gegenwährung“: Gespräch mit älteren Fans: „Die kaufen alles – wir haben Geschichte.“ → Code: Moralische Distinktion (Sozialvergleich).
Memo „Eigener Bias“: Meine Wut auf den VAR. KI-Lauf zählt in meinen Notizen häufiger „Ungerechtigkeit“ als in Fremdinterviews. Folge: Gegenkodierung mit neutralem Kategorienset und Peer-Debrief.
Leitfragen für Interviews & Beobachtung
- Wann fühlst du dich als Teil und nicht als Zuschauer:in?
- Welche Situationen lassen dich schweigen statt schreien – und warum?
- Worauf stützt du dich (Tradition/Authentizität), wenn Ergebnisse fehlen?
- Welche Momente würdest du nicht öffentlich machen – und warum?
Interne Verlinkungen
- Fußball und LEIDENschaft
- Affekte und Affektkontrolle
- Theorien des sozialen Vergleichs – Warum wir jubeln, wenn die anderen leiden
Literatur & Links
Bryant, A. (2019). The SAGE Handbook of Current Developments in Grounded Theory. Sage.
Charmaz, K. (2014). Constructing Grounded Theory (2nd ed.). Sage.
Elias, N. (1987). Über den Prozess der Zivilisation. Suhrkamp.
Geertz, C. (1973). The Interpretation of Cultures. Basic Books.

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