2.2.3.24 Norman Braun: Zwischen der Rationalität und dem Irrationalen

Norman Braun und seine Arbeiten zur Rational Choice helfen, Schein-Gegensätze zu verstehen: Zwischen dem, was rational wirkt, und dem, was affektiv „unvernünftig“ erscheint. Braun zeigt, dass Handeln unter Druck, Gewohnheit und in Peergroups sozial eingebettete Entscheidungen hervorbringt – mit Kosten-/Nutzenkalkülen, Zeitpräferenzen, Lern- und Netzwerkeffekten. Genau dort liegt der Brückenschlag zu meinem Projekt: Fußball erscheint oft als Gefühlssache, doch viele „irrationale“ Muster lassen sich als rationalisierte Affekte deuten – und manche „Rationalität“ ist nur gut trainierte Gewohnheit (Braun 2014/2002).

Was ich von Braun für den Fußball mitnehme

  • Rationalisierte Gewohnheit: Wiederholte Matchday-Routinen erzeugen „Automatismen“, die Aufwand senken und Zugehörigkeit sichern. Das „Immer-wieder-Gehen“ ist nicht bloß Affekt, sondern auch eine Effizienzlösung im sozialen Alltag (Braun).
  • Zeitpräferenzen & Geduld: Kurzfristige Affektdividenden (Stadionrausch, Kollektivgänsehaut) konkurrieren mit langfristigen Kosten (Zeit, Geld, Beziehungen). Fangewohnheiten sind auch Entscheidungen über den eigenen Zukunfts-Ich (Braun).
  • Netzwerke & Wechselkosten: Peergroups, Dauerkarten, Auswärtsfahrten erzeugen Bindungen, die „dranbleiben“ rational erscheinen lassen – selbst bei sportlicher Dürre. Soziale Kapitaleffekte stützen das Bleiben (Braun).
  • Rationale Sucht – ohne Pathologisierung: In Anlehnung an ökonomische Modelle (Becker & Murphy) lese ich manche „Kann-nicht-anders“-Momente als konsistente, wenn auch kurzsichtig abgewogene Wahl – verstärkt durch Gewohnheit, Reize und Gruppe.

Zwischen Rationalität & Irrationalität: ein Arbeitsmodell

  • Mikro (Entscheiden): Heuristiken, Zeitrabatte, Verlustaversion – die „vernünftige“ Wahl heute kann morgen unvernünftig wirken, sobald Affekt und Kontext kippen (Elster 1989; Gigerenzer 2008).
  • Meso (Netzwerk): Kurve, Freundeskreis, Fanclub – soziale Sanktionen/Belohnungen rahmen, was als „vernünftig“ gilt (mittragen, erscheinen, durchhalten).
  • Makro (Ökonomie/Organisation): Ticketpreise, Anstoßzeiten, Medienroutinen – sie formen Entscheidungssituationen vor; Rationalität ist hier oft induzierte Rationalität.
  • Kulturell-affektiv: Humor, Hymnen, Choreos – sie geben dem Kalkül Richtung, indem sie Gefühle strukturieren (z. B. „Würde im Scheitern“ als Belohnung für Treue).

Theoriepassagen justiert

  • Von „Warum?“ zu „Wozu?“: Statt Irrationalität zu beklagen, frage ich nach der Funktion einer Praxis: Was wurde gespart (Konflikt, Scham, Entscheidungsaufwand), was wurde gewonnen (Zugehörigkeit, Status, Sinn)?
  • Affekt als Nebenbedingung, nicht Gegenbegriff: Gefühle sind keine Störung des Kalküls, sondern Parameter darin. Ich rekonstruiere, welche Affekte unter welchen Zwängen sinnvoll erscheinen.
  • Ambivalenz als Datenpunkt: Widerspruch zwischen „vernünftig“ und „verrückt“ ist kein Fehler, sondern ein Hinweis auf verschobene Zeithorizonte und Peerdruck.

Methodische Folgen für mein Projekt

  • Entscheidungstagebücher: Kurznotizen vor/nach Spielen (Zeitaufwand, Kosten, Anlass, erwarteter/erlebter Nutzen) – um Zeitpräferenzen und Gewohnheitsstärke sichtbar zu machen.
  • Netzwerkmemos: Wer hat mich „gezogen“ (Peergroup, Online-Forum, Dauerkartenkette)? Welche Wechselkosten wären nötig, um auszusetzen?
  • Affekt-Kalkül-Mapping: Für zentrale Szenen (Derby, Abstiegskampf) kartiere ich Nutzenarten: emotional, sozial, symbolisch, ökonomisch – und ihre Gewichte.

Mini-Vignette (heuristisch)

„Eigentlich wollt’ ich sparen. Dann kam die Nachricht im Chat: ‚Heut’ alle!‘ – und der Clip vom letzten Last-Minute-Tor. Ich hab die frühe Bahn genommen.“ – Mein Memo: Rationalität folgt hier dem Netzwerk; die „irrationale“ Ausgabe ist in der Logik der Peergroup eine konsistente Entscheidung.

Leitfragen

  • Wann wird „Bleiben“ (trotz Niederlagen) zur rationalen Wahl – und für wen?
  • Welche Affekte werden in der Kurve als „Belohnung“ kalkuliert (Würde, Nähe, Gänsehaut) – welche als „Kosten“ (Scham, Streit, Müdigkeit)?
  • Wie hoch sind Wechselkosten (sozial, finanziell, symbolisch), um Routinen zu unterbrechen – und wer kann sie tragen?
  • Wo täuschen „vernünftige“ Begründungen nur ein trainiertes Gefühl nach – und wo tragen sie wirklich?

Literatur & Links

Braun, N. (2014/2002). Rationalität und Drogenproblematik. Walter de Gruyter/Oldenbourg. Verlagsseite (DOI)

Becker, G. S., & Murphy, K. M. (1988). A theory of rational addiction. Journal of Political Economy, 96(4), 675–700. UChicago Press

Elster, J. (1989). Social norms and economic theory. Journal of Economic Perspectives, 3(4), 99–117. AEA

Gigerenzer, G., & Gaissmaier, W. (2011). Heuristic decision making. Annual Review of Psychology, 62, 451–482. Annual Reviews


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