Wenn ich Fankultur beobachte, sehe ich eine Bühne mit Regeln: Rollen, Requisiten, Blickregie. In Goffmans Sinn entsteht Eindruck nicht zufällig, sondern wird gerahmt – frontstage sichtbar, backstage vorbereitet (Goffman 1959). In der sozialpsychologischen Tradition wird das unter Impression Management gefasst: das strategische Steuern der Bilder, die andere von uns gewinnen – bewusst oder automatisiert (Mummendey & Bolten 1993).

Begriff und Theorie – kurz, präzise
Impression Management bezeichnet die bewussten und unbewussten Versuche, den eigenen Auftritt so zu gestalten, dass das Publikum (Gegenüber, Kurve, Medien) einen gewünschten Eindruck gewinnt. Klassisch wird zwischen assertiven (aufbauenden) und defensiven (schützenden) Techniken unterschieden; relevant sind u. a. Taktik/Strategie, situative Passung und Persönlichkeitsfaktoren wie self-monitoring (Mummendey & Bolten 1993; Überblick in psychologischen Lexika).
Vier Kurven-Codes als Impression-Management
- „Der Club is a Depp“ (1. FC Nürnberg): Eine defensive Pointe, die Misserfolg umcodiert – Selbstironie schützt Gesicht, stiftet Nähe und markiert Zugehörigkeit. Frontstage ist das Lachen, backstage die Norm „Wir halten’s aus“.
- Schickeria (FC Bayern): Ein assertiver Re-Frame des Erfolgsimages: Haltung (Erinnerungskultur, Anti-Diskriminierung) als öffentlich sichtbarer Wert. Frontstage: Choreo/Statement; backstage: sorgfältige Skripte, Allianzen.
- „Arbeiterverein“ Dortmund: Klassenframe als Authentizitätsversprechen. Frontstage: gelbe Wand, Bodenhaftung; backstage: Kurvenarbeit, die „Wir sind viele, nicht teuer“ choreografiert.
- St. Pauli / Bohemians (Alternative Szene): Fankultur als Haltung. Frontstage: Symbole, Gesänge, Sichtbarkeit marginalisierter Gruppen; backstage: Care-Routinen und Community-Programme, die die Performance tragen.
- …
Wie Eindrücke gemacht werden: Frontstage, Backstage, Side-Stage
- Frontstage: Choreos, Capo-Ansagen, Lieddramaturgie, Visuals.
- Backstage: Proben, Materialarbeit, Abstimmungen (Wer spricht? Welche Worte? Welche Farben?).
- Side-Stage: Medien, CSR, Kommunalpolitik – Anschlussfähigkeit oder Gegenwind entscheidet, wie stabil der Eindruck bleibt.
Heuristik aus der Sozialpsychologie
Fürs Feld nutze ich die sozialpsychologische Präzisierung: Impression Management kann gegenüber realen oder imaginierten Publika stattfinden; fast jedes Verhalten trägt einen IM-Anteil; und viele Techniken lassen sich entlang der Achse assertiv ↔ defensiv ordnen (z. B. ingratiation, Vorfeld-Entschuldigung, Distanzierung). Für die Kurve heißt das: „Depp“-Ironie (defensiv) und „Haltungs-Choreo“ (assertiv) sind unterschiedliche Antworten auf dieselbe Erwartungsstruktur: glaubwürdig erscheinen (Mummendey & Bolten 1993; Spektrum-Lexikon).
Mini-Vignetten (heuristisch)
„Wieder vergeigt? Depp san mir halt aa.“ – Lachen, Schulterklopfen, Bier. Der Witz zieht die Grenze zwischen „uns“ (wir kennen den Code) und „denen“ (die ihn wörtlich nehmen).„Kein Platz für…“-Banner: Haltung wird sichtbar – der Frame verschiebt die Lesart der ganzen Kurve, auch wenn das Spiel mies ist.
Vorläufiges Codebuch (Impression-Management-Linse)
A. Darstellungsformen
- Selbstironie/Defensive (Gesichtsrettung, Schamabwehr)
- Haltungs-Assertion (wertebasierte Selbstpositionierung)
- Klassen-Frame (Bodenhaftung vs. Glamour)
- Glanz-Frame (Erfolg, Bühne, Ikonografie)
B. Bühnenlogiken
- Frontstage-Marker (Choreo-Peak, Capo-Timing, Medienbild)
- Backstage-Marker (Skripte, Konfliktlösung, Gatekeeping)
- Side-Stage-Marker (CSR-Anschluss, Presseframes, Stadtpolitik)
C. Affekt-Ökonomie
- Leidenskultur (Würde im Scheitern)
- Empörungswellen (Unrechts-Frames, VAR-Momente)
- Resonanzmomente (Gänsehaut/Chill/kollektive Stille)
D. Grenzziehungen
- Authentizität (Dialekt, Dresscode, Auswärtskapital)
- Ownership/Kommerz (Akzeptanzschwellen)
- Gender/Care (Sichtbarkeit, Schutzroutinen in der Kurve)
Feldnutzung
- Beobachtung: Matchday-Dramaturgie (Einstieg → Peak → Auflösung), Rollenwechsel, Requisitenfluss.
- Interviews: Capo/Choreo, „ruhige“ Stammgäste, Familienblock – mit Fokus auf Warum diese Form so?
- Artefakte: Liedtexte, Sticker, Posts; Abgleich mit Side-Stage (Presse/CSR).
- KI als Gegenlese: Transkription/Segmentierung; Deutung bleibt menschlich.
Leitfragen
- Welche defensiven und assertiven Taktiken dominieren in welcher Kurve – und warum?
- Wann kippt Authentizitäts-Pflege in Ausschluss (Gatekeeping)?
- Wie koordinieren Capo-Teams Frontstage und Backstage, damit „Wir“ stimmig wirkt?
- Welche Side-Stage-Akteure (Medien, Kommune, CSR) verstärken oder stören den Eindruck?
Literatur & Links
Dorsch – Lexikon der Psychologie. Stichwort: Eindrucksmanagement (o. J.). Hogrefe.
Spektrum Lexikon der Psychologie. Stichwort: Impression Management.
Goffman, E. (1959). The Presentation of Self in Everyday Life. Anchor.

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