Fußball und Demokratiebildung

Wenn das Stadion zur Schule der Demokratie wird

Teaser

Kann der Fußball, kann ein Fußballmuseum demokratische Werte vermitteln? Zum 10. Geburtstag des Deutschen Fußballmuseums lud ein wissenschaftliches Symposium an der Ruhr-Universität Bochum zur Reflexion ein. Zwischen Bildungswissenschaft, Erinnerungskultur und ästhetischer Theorie wurde eine zentrale Frage verhandelt: Welche Kraft hat der Fußball für die Demokratiebildung im 21. Jahrhundert – und welche Verantwortung tragen Museen dabei?


Intro & Framing

Am 26. November 2025 versammelten sich Wissenschaftlerinnen, Museumspraktikerinnen, Journalist:innen und Bildungsakteure an der Fakultät für Sportwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum zu einem ungewöhnlichen Experiment: Ein Fußballmuseum – sonst eher mit Trophäen und Trikots assoziiert – stellte sich der Frage nach seiner demokratiebildenden Funktion. Das Symposium „Fußball und Demokratiebildung“, organisiert vom Deutschen Fußballmuseum gemeinsam mit der RUB und dem Deutschlandfunk als Medienpartner, markierte mehr als eine Jubiläumsfeier. Es ist der Versuch, den Fußball als Medium politischer Bildung ernst zu nehmen.

Die Veranstaltung trifft einen Nerv: In einer Zeit, in der demokratische Institutionen unter Druck stehen und Museen ihre gesellschaftliche Rolle neu definieren, bietet der Fußball einen überraschenden Zugang. Denn anders als klassische politische Bildungsangebote erreicht er Menschen jenseits bildungsbürgerlicher Milieus – in Stadionkurven, Vereinsheimen und Fan-Initiativen.


Methods Window

Methodischer Rahmen: Dieser Tagungsbericht verbindet teilnehmende Beobachtung mit theoretischer Kontextualisierung. Als Grounded-Theory-inspirierte Reflexion ordnet er die Panel-Diskussionen in bestehende Forschungsstränge ein: die Gedächtnistheorie nach Assmann, Deweys Demokratie als Lebensform und aktuelle Arbeiten zur Demokratiebildung im Sport (Gaum/Jaitner 2024).

Datenbasis: Vier Panels, ein Impulsvortrag, ein Abschlussgespräch; ergänzt durch Literaturrecherche zu Fußball × Demokratiebildung × Erinnerungskultur.

Assessment Target: BA Soziologie (7. Semester) – Zielnote: 1.3 (Sehr gut).

Limitationen: Als Einzelbeobachtung bleibt der Bericht perspektivisch gebunden; nicht alle Diskussionsstränge können dokumentiert werden.


Evidence Block: Klassische Theorie

Assmann: Das Stadion als Erinnerungsort

Jan und Aleida Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses bietet einen präzisen Rahmen für die Frage, wie Fußball demokratische Werte tradieren kann. Nach Assmann (1988) ist das kulturelle Gedächtnis ein „Sammelbegriff für alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert“. Anders als das kommunikative Gedächtnis, das auf etwa 80 Jahre begrenzt ist, speichert das kulturelle Gedächtnis normative und formative Inhalte über Generationen hinweg – durch Riten, Texte und Orte.

Stadien und Fußballmuseen fungieren in dieser Logik als lieux de mémoire (Nora 1984): Sie kristallisieren kollektive Erinnerungen und machen sie erfahrbar. Die Gedenktafel für jüdische Sportler, das Foto vom WM-Finale 1954, die Dokumentation von Fan-Protesten – all das sind Ankerpunkte für ein demokratisches Gedächtnis des Sports.

Dewey: Demokratie als gelebte Erfahrung

John Deweys Bildungsphilosophie (1916) betont, dass Demokratie nicht primär als Regierungsform, sondern als Lebensform verstanden werden muss. „Bildung und Handlung werden so zu einem lebensdienlichen Erfahrungsprozess und Demokratie zu einer Lern- und Lebensform“ – diese These prägte auch den Tag in Bochum.

Für die Fußballsoziologie bedeutet das: Demokratiebildung geschieht nicht durch Belehrung, sondern durch partizipative Erfahrung – im Vereinsleben, in der Kurve, im Fanprojekt. Himmelmann (2004) hat diese Unterscheidung systematisiert in Demokratie als Herrschafts-, Gesellschafts- und Lebensform. Die Panels des Symposiums adressierten alle drei Ebenen.


Evidence Block: Aktuelle Forschung

Das BISp-Projekt „Demokratiebildung im Sport“

Prof. Dr. Christian Gaum (Ruhr-Universität Bochum) leitet gemeinsam mit Prof. Dr. David Jaitner (Deutsche Sporthochschule Köln) das Forschungsprojekt „Demokratiebildung im Sport“ des Bundesinstituts für Sportwissenschaft. Ziel ist die Untersuchung der Funktionen und Konzepte von Demokratiebildung in Sportvereinen sowie die Bestimmung demokratischer Strukturen in diesen Organisationen.

Tim Frohwein: Vereinsheime als Bildungsorte

Ein Höhepunkt des ersten Panels war der Vortrag von Tim Frohwein, der Vereinsheime als unterschätzte Bildungsorte analysierte. Seine zentrale These: Vereine sind nach wie vor ein Hort des sozialen Kitts – sie produzieren jenes Sozialkapital, das Demokratien zusammenhält.

Diese Beobachtung knüpft an die Debatte um Sportvereine als „Schulen der Demokratie“ an (Vosgerau 2014). Frohwein argumentiert jedoch differenzierter: Nicht der Verein per se, sondern die konkreten Praktiken des Vereinslebens – gemeinsame Entscheidungsfindung, Konfliktaushandlung, generationenübergreifendes Lernen – machen den demokratiebildenden Effekt aus.

Lernort Stadion: Das Modell der Fanlernzentren

Der 16. Kinder- und Jugendbericht (2020) identifiziert Sportvereine explizit als Orte demokratischer und politischer Bildung. Besonders das Modell „Lernort Stadion“ – mit über 20 Fanlernzentren an Profi-Fußballvereinen – nutzt die emotionale Bindung zum Verein als „Türöffner“ für gesellschaftspolitische Themen (Hebenstreit 2021).


Evidence Block: Panel-Berichte

Panel 1: Bildungswissenschaft (Gaum)

[DEINE BEOBACHTUNG: Wie verlief die Diskussion zwischen Wächter (Fußball als Dialoganstoß), Frohwein (Vereinsheime) und Schröder (Trainer und Demokratiebildung 1950-2000)? Gab es Spannungen zwischen historischen und aktuellen Perspektiven?]

Panel 2: Geschichte (Luh)

Prof. Dr. Jürgen Mittag (Sporthochschule Köln) sprach über Erinnerungsorte zur Demokratie im Fußball – von der Stadionkurve bis zur Gedenktafel. Ferdinand Houben und Gergő Hornburg präsentierten ihr Projekt „Spielfeld Geschichte“ zu jüdischen Identitäten im Berliner Fußball.

Panel 3: Ästhetik (Martínez)

Das vielleicht überraschendste Panel: Marina Sahnwaldt stellte „KLANGSPORT“ vor – eine auditive Fußballgeschichte mit demokratischem Potential. PD Dr. Martin Lüthe analysierte digitale Fußballspiele und ihre „Management-Didaktik“ (learn to play vs. pay to win). Prof. Dr. Matías Martínez schloss mit der These, dass Fußballliteratur gut für die Demokratie sein kann – durch Perspektivwechsel und narrative Empathie.

Panel 4: Public History (Bunnenberg)

Dr. Michael Gander sprach über „Orte des Jubels, Orte des Unrechts“ – die Ambivalenz von Stadien als Schauplätzen demokratischer und anti-demokratischer Geschichte.


Neighboring Disciplines: Museologie & Public History

Die Museologie hat in den letzten Jahren einen fundamentalen Wandel vollzogen: Vom „Tempel“ zum „Forum“, vom Bewahren zum Aktivieren. Das AHRC-DFG-geförderte Projekt „Cultural Dynamics: Museums and Democracy in Motion“ (Universitäten Würzburg und Newcastle) untersucht, wie sich wandelnde Demokratien und wandelnde Museumsverständnisse zusammenhängen.

Für Fußballmuseen stellt sich die Frage besonders pointiert: Wie können sie demokratische Partizipation erfahrbar machen, ohne in belehrende Didaktik zu verfallen? Das Symposium deutete Antworten an: durch sinnliche Erfahrung (Sahnwaldt), narrative Empathie (Martínez) und partizipative Formate.


Triangulation: Drei Spannungsfelder

Das Symposium offenbarte drei produktive Spannungsfelder:

  1. Emotion vs. Reflexion: Fußball erzeugt starke Emotionen – aber Demokratiebildung erfordert auch kühle Analyse. Wie lässt sich beides verbinden?
  2. Bottom-up vs. Top-down: Fan-Initiativen tragen demokratische Werte von unten; Museen und Verbände setzen Rahmen von oben. Wer definiert, was „demokratisch“ ist?
  3. Vergangenheit vs. Zukunft: Erinnerungskultur blickt zurück; Demokratiebildung soll für die Zukunft befähigen. Wie wird aus Gedenken Gestaltungskraft?

Practice Heuristics: 5 Handlungsregeln

  1. Nutze die emotionale Bindung als Türöffner – Fans sind für Demokratiethemen empfänglicher, wenn der Einstieg über „ihren“ Verein erfolgt.
  2. Schaffe Erfahrungsräume, keine Belehrungsräume – Partizipation lernt man durch Partizipation, nicht durch Vorträge.
  3. Verbinde Mikro- und Makroebene – Vom Vereinsheim zur Gesellschaft: Demokratiebildung braucht Transferbrücken.
  4. Thematisiere Ambivalenzen – Stadien waren auch Orte des Unrechts; ehrliche Erinnerungskultur schließt das ein.
  5. Kooperiere interdisziplinär – Bildungswissenschaft, Geschichte, Ästhetik, Museologie: Demokratiebildung ist Teamarbeit.

Sociology Brain Teasers

  1. (Typ A – Empirisch): Wie würdest du „demokratische Handlungskompetenz“ in einem Fanprojekt operationalisieren? Welche Indikatoren würdest du messen?
  2. (Typ B – Theorieclash): Dewey betont Erfahrungslernen, Assmann kulturelle Tradierung. Welcher Ansatz erklärt die demokratiebildende Wirkung von Fan-Choreografien besser?
  3. (Typ C – Ethisches Dilemma): Wenn ein Fußballmuseum kontroverse Fan-Aktionen dokumentiert (z.B. Pyrotechnik-Proteste) – fördert oder gefährdet das die Demokratiebildung?
  4. (Typ D – Makro-Provokation): Was passiert mit der „Schule der Demokratie“ Sportverein, wenn Kommerzialisierung die 50+1-Regel aushebelt?
  5. (Typ E – Selbsttest): Kannst du in deinem eigenen Vereinsleben Beispiele für „Demokratie als Lebensform“ identifizieren? Wo werden Entscheidungen partizipativ getroffen – wo nicht?

Hypothesen

[HYPOTHESE 1]: Je stärker Fußballmuseen partizipative Formate einsetzen (statt passiver Ausstellungsbesuche), desto höher ist der gemessene demokratiebildende Effekt bei Besucher*innen. Operationalisierung: Vergleich von Führungs-Gruppen (passiv) vs. Workshop-Gruppen (aktiv) mittels Pre-/Post-Befragung zu politischem Selbstwirksamkeitserleben.

[HYPOTHESE 2]: Vereinsheime mit etablierten Gremienstrukturen (Mitgliederversammlungen, Jugendausschüsse) produzieren mehr „bridging social capital“ (Putnam) als Vereine mit schwachen Partizipationsstrukturen. Operationalisierung: Netzwerkanalyse + Survey zu außersportlichen Engagementformen.

[HYPOTHESE 3]: Ästhetische Zugänge (Fußballliteratur, auditive Geschichte) erhöhen die Empathiefähigkeit für demokratische Perspektivwechsel stärker als rein kognitive Informationsvermittlung. Operationalisierung: Experimentelles Design mit Randomisierung auf Literatur- vs. Infoblatt-Gruppe; Messung von Perspektivübernahme (Davis IRI-Skala).


Zusammenfassung & Ausblick

Das Symposium „Fußball und Demokratiebildung“ markiert einen Meilenstein in der wissenschaftlichen Reflexion über den gesellschaftlichen Wert des Sports. Die zentrale Erkenntnis: Fußball ist nicht bloß Unterhaltung oder Wirtschaftsfaktor – er ist ein Erfahrungsraum, in dem demokratische Praktiken eingeübt werden können.

Tim Frohweins These vom Verein als „Hort des sozialen Kitts“ benennt das Potential präzise: In Zeiten fragmentierter Öffentlichkeiten bieten Sportvereine und Fan-Gemeinschaften Räume für generationenübergreifende, milieu-überbrückende Begegnung. Dass diese Räume nicht automatisch demokratisch sind – auch das wurde deutlich. Es braucht bewusste Gestaltung, reflexive Praxis und institutionelle Unterstützung.

Für das Deutsche Fußballmuseum bedeutet das eine Erweiterung seines Selbstverständnisses: Vom Schrein der Erinnerung zum Labor der Demokratie. Die nächsten zehn Jahre werden zeigen, ob dieser Anspruch eingelöst wird.


Literatur

Assmann, J. (1988). Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In J. Assmann & T. Hölscher (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis (S. 9–19). Suhrkamp. https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/propylaeumdok/1895/

Assmann, A. (1999). Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. C.H. Beck.

Dewey, J. (1916/2000). Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik. Beltz.

Frohwein, T. (2023). Probetraining – Eine Reise an die deutsche Fußball-Basis. Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit.

Gaum, C. & Ratzmann, A. (2024). Bewegte Konsensfindung – eine erfahrungstheoretische Figur der Demokratiebildung. Zeitschrift für Pädagogik.

Hebenstreit, S. (2021). Lernort Stadion: Aktivierung durch Passivsport. In Forum Kinder- und Jugendsport, 2(1), 36–47. https://link.springer.com/article/10.1007/s43594-021-00036-7

Himmelmann, G. (2004). Demokratie-Lernen: Was? Warum? Wozu? In G. Himmelmann & D. Lange (Hrsg.), Demokratiekompetenz. VS Verlag.

Nora, P. (1984). Les lieux de mémoire. Gallimard.

Vosgerau, K. (2014). Lernort Stadion – Politische Bildung an Fußballstandorten. Journal für politische Bildung, 4, 248–256.


Transparency & AI Disclosure

Dieser Tagungsbericht entstand in Mensch-KI-Kooperation mit Claude (Anthropic) für Literaturrecherche, Strukturierung und Erstentwurf. Methodische Basis: Grounded Theory (offenes, axiales, selektives Kodieren). Datengrundlagen: Symposiums-Programm, teilnehmende Beobachtung, fußballsoziologische Fachliteratur, Demokratiebildungsforschung. KI-Grenzen: Modelle können Quellen falsch zuordnen, kulturelle Nuancen der Fankultur übersehen oder empirische Befunde vereinfachen. Menschliche Qualitätssicherung: GT-Methodencheck, APA-Compliance, Widerspruchsprüfung, Beobachtungs-Integration. Reproduzierbarkeit via dokumentierte Prompts.


Prompt-ID: HDS_SocSoc_v1_2_SymposiumDemokratiebildung_20251126


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