Von der vergeblichen Suche nach dem Schatz am Ende des Daten- und Technikregenbogens
Man jagt nun seit Jahren einem Versprechen der Technik hinterher: Am Ende des Daten-Regenbogens liegt der Schatz absoluter Gerechtigkeit. Sensoren, Winkel, Gradzahlen; Linien, die angeblich millimetergenau sind; Algorithmen, die „Wahrheit“ berechnen. Nur: Fußball ist Mensch, nicht Maschine, ein Spiel, das von Unsicherheit, Timing und menschlichen (Fehl-)Leistungen und (Miss-)Interpretation lebt: auf dem Spielfeld und rundherum. Fehler sind keine Ausnahme, die es zu beseitigen gilt. Ohne Fehler gibt es keine Tore, Dramen, Mythen,… die den Fußball ausmachen.
Warum Fehler produktiv sind
Ohne Fehlpass keine Balleroberung, ohne Stellungsfehler keine Tiefenläufe, ohne Timingfehler kein Elfmeter. Tore entstehen aus Störungen, aus Abweichungen vom Plan. Fehler sind die Mini-Explosionen, die Spiele öffnen – für beide Seiten. Wer sie komplett eliminieren will, eliminiert das, was den Sport erzählbar macht.
VAR: Das Technikversprechen – und seine neue Fehlerquelle
Der VAR wurde eingeführt, um „klare und offensichtliche“ Fehler zu korrigieren. In der Praxis hat er eine neue Interpretationsschicht geschaffen: Kameraauswahl, Zeitlupengeschwindigkeit, Kalibrierung der Linien, Bildrate, Blickachsen – und letztlich die Auslegung dessen, was „klar und offensichtlich“ sein soll. Jedes dieser Glieder ist menschlich: Eine Regie entscheidet, welche Kamera zählt. Ein:e Assistent:in wählt die Standbilder. Eine Schiedsrichter:in interpretiert Hand-/Körperhaltung, Intensität, Absicht – alles Konzepte, die im Graubereich leben. Das Techniktool ist nicht der Schatz; es ist ein weiterer Filter, der Fehler einführt, statt sie abzuschaffen.
Interpretation verschwindet nicht – sie verschiebt sich
Vor dem VAR lag die Interpretationsmacht auf dem Rasen. Jetzt liegt sie zwischen Rasen und Review-Raum. Der vermeintliche „Beweis“ Bild ersetzt nicht das Urteil, er rahmt es. Zeitlupen verlangsamen Kollisionen und lassen sie härter aussehen, als sie in Echtzeit waren; Standbilder frieren Situationen ein, in denen gerade Bewegung das Entscheidende war. Es entsteht die Illusion einer Objektivität, die das Subjektive nur neu verpackt.
Die Ökonomie der Unsicherheit
Fußball ist eine Affektökonomie: Er lebt von überraschenden Peaks, vom Bruch zwischen Erwartung und Ereignis. Technik, die jeden Peak nachträglich zerlegt, verändert die affektive Zeit: Jubel wird aufgeschoben, Tor-Momente werden rückwirkend entwertet („Warte, die Linie kommt noch…“). Für mich ist der VAR als Stimmungskiller ein zu hoher Preis für die ein oder andere gerechtere(?) Entscheidung.
„Normal verteilt?“ – Zur Nüchternheit der Fehlertheorie
Es spricht vieles dafür, dass die Fehler des VAR ähnlich streuen wie jene der Schiris auf dem Platz – nur anders gelagert: weniger Sichtlinienfehler, dafür mehr Frame-/Kalibrierungs-/Kriterienfehler. Aus einem statistischen Problem wird kein technisches Wunder, sondern ein neuer Fehlerraum. Wir lösen Varianz und Residuen nicht auf; wir verlagern sie.
Gerechtigkeit vs. Gerechtigkeitsempfinden
Der VAR verspricht mehr Gerechtigkeit, schafft aber häufig ein weniger an Gerechtigkeitsempfinden: Prozesse und Kriterien bleiben für viele undurchsichtig. Ein „Millimeter-Abseits“ steht oft gegen das intuitive Spielgefühl steht. Die Feier des Moments wird durch Wartezeiten zerstört. Ein Verfahren kann so objektive, wie es will. Wenn es die Stimmung zerstört, verliert es seine Legitimation.
Pragmatismus statt Heilslehre
Technik ist kein Orakel: klare, seltene Einsatzfälle; Transparenz über Kriterien; Echtzeit-Kommunikation; enge Definition von „klar und offensichtlich“. Und vor allem: die Anerkennung, dass Fehlbarkeit kein Bug ist, sondern der Stoff, aus dem das Spiel seine Spannung baut.
Mini-Vignette
92. Minute. Flanke, Kopfball, Tor. Das Stadion explodiert – dann friert die Zeit ein. Hand ans Ohr. Bildschirm. Linie. Standbild. Eine Minute, zwei. Abseits, Millimeter. Der Jubel fällt in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Auf dem Papier gerechter – im Körper leer.
Fazit
Der Schatz am Ende des Daten- und Technikregenbogens ist ein Mythos und wird es auch mit der nächsten technischen Innovation bleiben. Was wir statt absoluter Gerechtigkeit erhalten, sind neue Werkzeuge, und weil sie von Menschen bedient werden, neue Fehler. Fußball bleibt ein Spiel, das von der Unsicherheit und eben auch Fehlern lebt. Wer alle Fehler beseitigen will, zerstört das Spiel.

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