4.3.5 SpVgg Bayreuth (Oldschdod)

Lokale Tradition, subkulturelle Identität

„Oldschdod“ als Gefühl, Praxis und Erzählung

Ich nähere mich der SpVgg Bayreuth über drei miteinander verschränkte Ebenen:

(1) Tradition als Ressource, die lokal verhandelt wird;

(2) subkulturelle Marker, die Zugehörigkeit performen; und

(3) resonante Öffentlichkeiten, in denen Fans Deutungshoheit beanspruchen.

Bayreuth ist dabei ein schöner Kontrastfall: Eine hochkulturell aufgeladene Stadt (Festspiele) trifft auf eine bodenständige Fußballkultur. Mich interessiert, wie „Oldschdod“ als Selbstbezeichnung zu einem affektiven Verdichter für Stolz, Eigensinn und Beharrlichkeit wird – und wie sich daraus eine besondere Mischung aus Heimatnähe und Widerständigkeit ergibt (vgl. Hobsbawm 1983; Bourdieu 1992).

Feldskizze: Räume, Rhythmen, Routinen

  • Stadion & Wege: Die wiederkehrenden Wege zum Spiel, Treffpunkte vor dem Stadion, lokale Gastronomie – all das wirkt als resonanter Taktgeber des Wochenendes. Ich beobachte, wie räumliche Gewohnheiten Zugehörigkeit sedimentieren (Elias 1986).
  • Zeichen & Sounds: Gelb-Schwarz als visuelle Klammer; Dialektformen („Oldschdod“) auf Bannern, in Gesängen und Memes; eine eher low-tech Ästhetik (selbstgemachte Schilder, analoge Rituale) als bewusster Stil gegen glatte Eventisierung (Hebdige 1979; Thornton 1995).
  • Zeitachsen: Erzählte Auf- und Abstiege, Auftritte im Pokal, lokale Derbys – sie strukturieren eine geteilte Erinnerung, die immer wieder neu öffentlich aktualisiert wird (Anderson 1983; Hobsbawm 1983).

Tradition als Ressource – ohne Nostalgiefalle

„Tradition“ bedeutet im Fußball nicht Rückwärtsgewandtheit. Tradition ist meines Erachtens eine strategische Ressource, mit der Fans Anschluss an Gegenwartspolitiken des Fußballs gewinnen: Wenn Kommerzialisierungswellen kommen, wird Tradition als Argument für Ticketsozialität, Stehplätze, lokale Jugendförderung mobilisiert. Dabei beobachte ich situative Übersetzungen: Ein altes Vereinslogo, ein historischer Spielername oder ein Platz in der Stadtkarte wird heutig gemacht, um Ansprüche an Sichtbarkeit, Würde und Mitbestimmung zu formulieren (Hobsbawm 1983; Fraser 1990).

Subkulturelle Identität: Codes, Distinktionen, Grenzen

  • Codes: Sprachmarker (Dialekt), Humor (selbstironische „Oldschdod“-Memes), prägnante Chants und eine robuste DIY-Haptik. Diese Codes produzieren Distinktion zu „von außen“ definierten Bildern und schaffen Binnenverstehen (Hebdige 1979; Thornton 1995).
  • Grenzziehungen: „Wir“ entsteht punktuell auch gegen „die da oben“ (Verbände, TV) oder „die da draußen“ (Event-Publikum). Solche Grenzziehungen sind beweglich und hängen von Spielkontext, Tabellensituation und lokalen Konflikten ab (Bourdieu 1992).
  • Inklusion/Exklusion: Subkulturelle Wärme kann kippen, wenn Codes zu hart polarisieren. Ich achte deshalb auf Willkommenspraktiken (etwa für Jugendliche, Frauen, Neuzugezogene) und auf Gatekeeping (Kleiderordnung, Insider-Wissen). Das Verhältnis bleibt empirisch zu prüfen (Fraser 1990).

Öffentlichkeiten: Lokal, digital, dekolonial sensibilisiert

In Anlehnung an die Projektlogik zu (Gegen-)Öffentlichkeiten betrachte ich Bayreuth als Knoten mehrerer Öffentlichkeiten:

  • Lokal-öffentlich (Stadt, Vereine, Kulturinstitutionen): Fußball als Teil kommunaler Identität; gelegentliche Spannungen zwischen Hochkultur-Branding und Fanmilieu.
  • Vereins-öffentlich (offizielle Kanäle): kuratierte Geschichten, Sponsoren-Rahmungen, Imagepflege.
  • Gegen- und Fan-öffentlich (Foren, Fanzines, Kurve): Hier werden alternative Lesarten gepflegt – etwa wenn Ticketpreise, Stadionfragen oder Jugendarbeit verhandelt werden (Fraser 1990).
    Mit dem dekolonial geschärften Blick frage ich zusätzlich, wessen Bayreuth-Geschichten sichtbar werden (Migration, Arbeit, weibliche Fankulturen) – und wo blinde Flecken bestehen (Santos 2018).

Methodik & Datenlage (Grounded Theory, laufend)

  • Erhebung: Kurz-Feldnotizen im Stadionumfeld, qualitative Kurzinterviews (Fans, Ehrenamt, Jugend), Sammeln von Fanzine-Material, Social-Media-Posts, Vereinsmitteilungen.
  • Auswertung: Offenes Kodieren („Dialekt-Markieren“, „Erinnerung-Aktualisieren“, „DIY-Distinktion“), konstantes Vergleichen entlang Heim/Auswärts, Sieg/Niederlage, Saisonphasen; anschließendes axiales Bündeln zu Traditions-Performances, Subkultur-Policing und Ressourcen-Claims.
  • Ethik: Einverständnisse sichern, Zitate anonymisieren, Kontexte nicht verzerren; sensible Themen (Diskriminierung, Ausschlüsse) behutsam und faktenbasiert behandeln.

Vorläufige Kategorien (Work-in-Progress)

  1. Traditions-Performances: Rituale, in denen Vergangenheit zur Gegenwartsressource wird (Choreo-Motive, Dialekt-Slogans).
  2. DIY-Distinktion: Sichtbare Eigenarbeit (Banner, Sticker, Fanzines) als Marker von Authentizität.
  3. Resonanz-Korridore: Orte und Medien, in/über die Fans die Stadtöffentlichkeit erreichen (Marktplatz-Aktionen, lokale Presse, Podcasts).
  4. Gatekeeping vs. Willkommen: Aushandlungen an Übergängen (Jugendblock, Familienbereich, Frauen im Capo-Team).

Forschungstagebuch (Ich-Reflexion)

Ich merke, wie schnell ich „Tradition“ mit Nostalgie verwechsle. Im Feld zeigt sich eher eine pragmatische Aktualisierung: Tradition wird so lange umcodiert, bis sie heutige Ansprüche (Respekt, Teilhabe, faire Preise) stützt. Für die nächsten Besuche plane ich vergleichende Mini-Beobachtungen: ein Heimspiel mit Fokus auf DIY-Artefakte, ein Auswärtsspiel mit Fokus auf Sprachmarker – und jeweils kurze Gespräche darüber, warum diese Formen „typisch Oldschdod“ seien.

Leitfragen für die nächste Runde

  1. Welche Sprach- und Bildmarker konstituieren „Oldschdod“ – und wie werden sie von Fan-Neulingen gelernt?
  2. Wo kippt DIY-Authentizität in Gatekeeping – und wie moderiert die Kurve diese Grenze?
  3. Wie werden Tradition und soziale Gerechtigkeit miteinander verschaltet (Ticketpolitik, Jugend, Inklusion)?

Literatur

  • Anderson, B. (1983). Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London: Verso.
    🔗 Verlagsseite Verso Books
  • Bourdieu, P. (1992). Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
    🔗 Suhrkamp Verlag
  • Elias, N. (1986). Über den Prozeß der Zivilisation. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
    🔗 Suhrkamp Verlag
  • Fraser, N. (1990). Rethinking the public sphere: A contribution to the critique of actually existing democracy. Social Text, 25/26, 56–80.
    🔗 JSTOR
  • Hebdige, D. (1979). Subculture: The Meaning of Style. London: Routledge.
    🔗 Taylor & Francis / Routledge
  • Hobsbawm, E. (1983). Introduction: Inventing Traditions. In E. Hobsbawm & T. Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition (S. 1–14). Cambridge: Cambridge University Press.
    🔗 Cambridge University Press
  • Thornton, S. (1995). Club Cultures: Music, Media and Subcultural Capital. Cambridge: Polity Press.
    🔗 Polity Books
  • Santos, B. de S. (2018). The End of the Cognitive Empire: The Coming of Age of Epistemologies of the South. Durham: Duke University Press.
    🔗 Duke University Press

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