Kollektivrituale, Selbstmedikation und der Zusammenhang von Rausch, Männlichkeit und Zugehörigkeit
Ich verstehe Rausch im Fußball nicht allein als „Ausnahmezustand“, sondern als sozialen Modus, der (auch negativ konnotierten) Zugehörigkeit, Mut und Entlastung herstellt – und genau deshalb riskant werden kann. In Kurven und Kneipen werden Stimmungen angeheizt, Unsicherheiten gedämpft und Gemeinschaft markiert. Das ist wirkungsvoll, aber ambivalent: Je stärker Rausch als Bedingung für Stimmung und Mut gebraucht wird, desto enger wird der emotionale Spielraum (vgl. WHO 2024).
Ritual statt Zufall: Wie kollektiver Rausch Zugehörigkeit produziert
Vortreffen, Marsch, erstes Bier am immer gleichen Kiosk – diese Routinen sind mehr als Gewohnheit: Sie sind Aufwärmrituale für Affekt und Stimme. Ich erlebe häufig, dass „stimmungsfähig sein“ als soziale Norm erlebt wird. Alkohol wirkt dabei als Taktgeber und Schmiermittel: Hemmungen sinken, Synchronität steigt. Studien zu Fußballkulturen in England/Schottland zeigen, wie normalisiert Alkohol in Matchday-Erzählungen ist – als Bindeglied von Geselligkeit, Mut und „Dazugehören“ (vgl. UK Data Service 2021; RAND 2018).
Selbstmedikation: Rausch als affektives Werkzeug
Wenn Druck, Scham, Angst oder Erschöpfung überwiegen, wird Rausch leicht zum Werkzeug: ein schneller Weg, um innere Spannungen zu regulieren. In der Suchtforschung wird das als Selbstmedikationshypothese beschrieben: Substanzen werden gewählt, weil ihre Wirkprofile zu den belastenden Affekten „passen“ (vgl. Khantzian 1997). Übertragen aufs Stadion: Wer soziale Angst hat, findet im Bier die „Eintrittskarte“ in die Lautstärke; wer erschöpft ist, nutzt Stimulanzien, um „noch durchzuhalten“. Das erklärt, warum der gleiche Ritus für manche stabilisierend, für andere riskant wirkt.
Männlichkeit und Mut: Warum „noch eins“ mehr ist als Durst
In vielen Kurven wird Mut als sichtbare Ressource performt – Singen, Springen, Präsenz. In solchen Settings kann Alkohol zur Maskulinisierung dienen: Er liefert das Skript für Furchtlosigkeit, Härte, „Nicht-klein-beigeben“. Aus der Geschlechterforschung ist bekannt, dass solche hegemonialen Muster Gefährdungen mitproduzieren (vgl. Connell & Messerschmidt 2005). Für mein Kodieren ist wichtig: Was gilt in der Kurve als „mutig“ – und woran wird „Männlichkeit“ gemessen? Wird Nüchternheit als Schwäche gelesen, Care-Arbeit (Begleiten, Platzmachen) als „weiblich“ abgewertet?
Marketing & Sponsoring: Wenn Normalität des Rauschs gemacht wird
Die Normalisierung entsteht nicht nur „unten“, sondern auch „oben“: Trikot, Bande, Social Ads. Forschung zeigt konsistent, dass Sport-Sponsoring durch Alkoholmarken mit erhöhtem Konsum assoziiert ist, auch bei Jugendlichen und Sporttreibenden (vgl. Lancet Reg. Europe 2024; EUCAM 2024). Für das Feld heißt das: Sichtbarkeit ist nicht neutral – sie definiert, was „normal“ wirkt.
Risiken im Kleingedruckten: Mischkonsum, Pre-Loading, Kontrollverlust
„Vortrinken“ vor dem Stadion spart Geld, erhöht aber Blutalkoholspiegel zu Spielbeginn; Mischkonsum (Alkohol + Stimulanzien/Benzos) kann die Risikowahrnehmung weiter senken. Public-Health-Analysen verweisen darauf, dass Schäden sich nicht nur als „Ausrutscher“ einzelner zeigen, sondern strukturell anfallen – von Gewalt bis Beziehungsstress (vgl. WHO 2024).
Mein heuristisches Raster fürs Feld
- Ritual-Dichte: Wie viele der Matchday-Schritte sind alkoholgebunden (Treffpunkt, Marsch, Halbzeit)?
- Selbstmedikations-Hinweise: Welche Affekte werden „wegreguliert“ (soziale Angst, Erschöpfung, Frust)?
- Gender-Codes: Wann gilt Nüchternheit als „unpassend“, Care als „weiblich“?
- Sichtbarkeit: Welche Sponsoring-/Bar-Settings erhöhen den Druck „mitzumachen“?
- Schutzroutinen: Gibt es alkoholfreie Zonen/Zeiten, Peers, die Ausstieg ermöglichen?
Mini-Vignette (heuristisch)
„Ohne zwei Halbe sing i ned.“ – Lachen, klopfende Schultern. Später: derselbe Fan trägt einen kleineren, unsicheren Jungen durch die Menge. Mein Memo: dieselbe Kurve produziert Mut und Care – Frage ist, wer beides sichtbar leben darf.
Leitfragen
- Ab wann wird Rausch vom Türöffner zum Zwang für Stimmung und Mut?
- Welche affektiven Funktionen erfüllen Alkohol/andere Substanzen – und welche Alternativen gibt es im Setting?
- Wie prägen Sponsoring und Sichtbarkeit unsere Normen – und wo setzen Kurven Gegenzeichen?
- Wie lassen sich Care-Routinen (Begleiten, Deeskalieren, „Heute ohne“) aufwerten statt abwerten?
Literatur & Links
Connell, R. W., & Messerschmidt, J. W. (2005). Hegemonic masculinity: Rethinking the concept. Gender & Society, 19(6), 829–859. SAGE
Khantzian, E. J. (1997). The self-medication hypothesis of substance use disorders: A reconsideration and recent applications. Harvard Review of Psychiatry, 4(5), 231–244. Taylor & Francis
RAND Europe. (2018). Alcohol and international football tournaments. RAND Report
Purves, R. I., Morgan, A., & Critchlow, N. (2024). Alcohol sponsorship of football. Institute for Social Marketing and Health / EUCAM. EUCAM
Lancet Regional Europe. (2024). Alcohol normalisation in Europe: The role of alcohol sports sponsorship. The Lancet Regional Europe
UK Data Service. (2021). Understanding the role of alcohol consumption in football cultures in England and Scotland. Project page
World Health Organization. (2024). Global status report on alcohol and health and treatment of substance use disorders. WHO

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