2.5.1 Aus der Suchtforschung: Wenn der Ball „süchtig“ macht

Gewohnheit, Reiz & Ritual

Ich spreche hier bewusst von Suchtdynamiken im Fanalltag. Nicht weil Fansein per se eine Störung wäre, sondern weil bekannte Mechanismen aus der Suchtforschung helfen, mein eigenes „Warum ich immer wieder gehe“ analytisch zu fassen: Gewohnheitsschleifen, Reiz–Belohnungs-Erwartungen und Rituale. In der Stadionwelt bündeln sich diese Bausteine zu einer Affektökonomie, die grandios tragen kann – und im Extrem verengt.

1) Gewohnheit: Kontext → Routine → Belohnung

Matchday-„Autopiloten“ entstehen, wenn Verhalten in gleichbleibenden Kontexten wiederholt wird: Treffpunkt, Uhrzeit, Zugang, Block – die Cues zünden Routine, Routine bringt Belohnung (Erleichterung, Vorfreude). Empirisch folgt die Zunahme von Automatisierung typischerweise einer asymptotischen Kurve: viel Zuwachs am Anfang, Sättigung später (Lally et al., 2010).

2) Reiz & Vorhersagefehler: Warum Unvorhersehbares fesselt

Unser Dopaminsystem reagiert besonders stark, wenn etwas besser oder schlechter kommt als erwartet – der berühmte Reward-Prediction-Error. Fußball produziert solche Abweichungen en masse (späte Tore, VAR-Dramaturgie): Genau diese Volatilität hält die Aufmerksamkeit hoch (Schultz, 1998).

3) Cue-„Wanting“: Ziehkräfte der Stadionwelt

Die Incentive-Sensitization-Theorie unterscheidet zwischen liking (Mögen) und wanting (Begehren): Gelernte Hinweisreize (Geruch, Klang, Sichtachsen im Block) können das wanting überproportional hochfahren – selbst wenn das eigentliche „Vergnügen“ (liking) gar nicht steigt (Robinson & Berridge, 2025). :contentReference[oaicite:2]{index=2}

4) Variable Verstärkung: Das „Vielleicht-heute“

Unregelmäßige Belohnungen machen Verhalten zäh. Nicht jede Auswärtsfahrt wird magisch – aber manchmal eben doch. Diese unsichere Verstärkung bindet Aufmerksamkeit und verstärkt Gewohnheitsschleifen. (Anschluss an 1) und 2)).

5) Rituale & Kollektiv: Entlastung mit Nebenwirkung

Choreos, Marschrouten, Stammplätze senken Unsicherheit und bündeln Affekt (Durkheim/Collins-Linie). Ambivalenz: Rituale können zur Affekt-Prothese werden – „die richtigen Gefühle“ stellen sich nur noch in genau dieser Form ein. Bricht die Form, fehlt der Halt.

6) Leidenschaftsprofile: harmonisch vs. obsessiv

Die Motivationspsychologie unterscheidet zwei Modi: harmonische Leidenschaft (integriert, flexibel) und obsessive Leidenschaft (dominant, rigide). Im Feld sichtbar an Reaktionen auf Störungen (Spielverlegung, Familienfest, Geldknappheit): kann ich nein sagen – oder geht es „nicht ohne“? (Vallerand et al., 2003).

7) Impression Management & Selbstwert: BIRGing/CORFing

Fans sonnen sich im „Wir haben gewonnen“ (BIRGing) und distanzieren sich im „Die haben verloren“ (CORFing). Wenn Distanz tabu ist (Dauerkarte, Peergroup), sucht das System Ersatzbelohnungen: ironische Selbstabwertung („Der Club is a Depp“), ritualisierte Wut – beides stabilisiert Zugehörigkeit (Cialdini et al., 1976).

8) Einordnung mit Norman Braun: „Rationale Sucht“, Zeitpräferenzen & Netzwerk

Norman Braun liest Suchtphänomene ausdrücklich als sozial eingebettete Entscheidungen: Er verbindet Rational-Choice-Modelle mit Empirie und zeigt, wie Gewohnheitsbildung, rationale Sucht (Becker/Murphy-Tradition), Ungeduld/Zeitrabatte und Netzwerke/Sozialkapital zusammenwirken. Übertragen auf Fußball heißt das: Kurzfristige Affekt-„Dividende“ (Kick am Spieltag) wird gegen langfristige Kosten (Zeit, Geld, Konflikte) abgewogen; stabile Peergroups und Stadion-Netzwerke senken „Wechselkosten“ – und halten das System am Laufen (Braun, Kap. „Gewohnheitsbildung und Sucht“, „Theorie der rationalen Sucht“, „Suchtkonsum und Ungeduld“).

Was ich im Feld prüfe (Heuristik)

  • Gewohnheit: Welche Cues (Zeit, Weg, Block) triggern „Autopilot“?
  • Vorhersagefehler: Welche Überraschungen haken besonders (späte Tore, VAR)?
  • „Wanting“: Welche Sinnesreize (Klang, Geruch, Sicht) ziehen unabhängig vom Ergebnis?
  • Ritual: Wo schützt Routine – und wo verengt sie?
  • Braun-Linse: Wie wirken Zeitpräferenzen & Peergroup-Netzwerke auf Dranbleiben?

Leitfragen

  • Ab welcher Dichte von Cues kippt bequeme Routine in Zwangsroutine?
  • Wie balanciere ich „liking“ und „wanting“ im Stadionalltag?
  • Woran erkenne ich harmonische vs. obsessive Leidenschaft – bevor es eng wird?
  • Welche Rollen spielen Zeitpräferenzen, Kostenkontrolle und Peergroup-Netzwerke?

Literatur & Links

Braun, N. (2014/2002). Rationalität und Drogenproblematik. Walter de Gruyter/Oldenbourg. Verlagsseite (DOI) · Google Books

Lally, P., van Jaarsveld, C. H. M., Potts, H. W. W., & Wardle, J. (2010). How are habits formed? European Journal of Social Psychology, 40(6), 998–1009. Wiley

Schultz, W. (1998). Predictive reward signal of dopamine neurons. Journal of Neurophysiology, 80(1), 1–27. Europe PMC

Robinson, T. E., & Berridge, K. C. (2025). The incentive-sensitization theory of addiction: 30 years on. Annual Review of Psychology, 76, 29–58. Annual Reviews

Vallerand, R. J., Blanchard, C., Mageau, G., Koestner, R., Ratelle, C., Léonard, M., Gagné, M., & Marsolais, J. (2003). On obsessive and harmonious passion. Journal of Personality and Social Psychology, 85(4), 756–767. Author PDF

Cialdini, R. B., Borden, R. J., Thorne, A., Walker, M. R., Freeman, S., & Sloan, L. R. (1976). Basking in reflected glory: Three (football) field studies. Journal of Personality and Social Psychology, 34(3), 366–375. Author PDF

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