
Wenn ich heute am Fußball-Projekt schreibe, höre ich einige Echos aus meiner Diplomarbeit (2002). Damals habe ich ökonomisches Kapital, Humankapital und Sozialkapital als Bausteine dessen beschrieben, was ich total wealth nannte: die Summe an Ressourcen, die Menschen handlungsfähig macht – und die erklärt, wer Renten zieht und wer im gleichen Moment ausgebeutet wird. Heute sehe ich diese Mechaniken auch im Stadion, in Ticketshops, in Medienpaketen, Akademien und Vereinsgremien. Nur ist alles für mich unmittelbarer, körperlicher, lauter. Würde ich die Arbeit nochmal schreiben, es würde keine theoretische sondern eine qualitativ-empirische.
Hätte es doch damals schon KI gegeben. Wie viele schmerzhafte Phasen der Prokrastination und Stunden des Starrens auf einen leeren Röhrenbildschirm mit Word 2000 hätte mir das erspart.
Was ich über Renten lernte und wo es sie im Fußball gibt.
Rente ist kein technisches Randthema, sondern das Scharnier sozialer Konflikte um knappe Resssourcen. Wer knappe Güter kontrolliert (Rechte, Plätze, Daten, Lizenzen, Marken), kann Überschüsse abschöpfen. Wer die Kosten trägt (Zeit, Gesundheit, Unsicherheit), partizipiert daran nicht automatisch. Im Fußball materialisiert sich das als privilegierter Zugriff auf exklusive Medienrechte, Stadionplätze oder Talente – und als Abschöpfung von Überschüssen, die andere erzeugen: Fankreativität, Aufmerksamkeit, Daten, Community-Arbeit.
Die Pointe: Soziale Rollen und Positionen sind beweglich. Dieselbe Person kann an einem Samstag Ausgebeutete:r sein (Preisschock, restriktive Rechte, Paywall), am nächsten Wochenende aber selbst Rente ziehen (bevorzugter Zugang, Netzwerkvorteil, Insiderwissen). Genau diese Verschiebungen machen die Analyse spannend – und die Regulierung schwierig.
Das 3K-Modell im Stadionalltag
Ökonomisches Kapital
Ich sehe, wie Budgetlogiken Zugehörigkeit ordnen: Wer zahlt, kommt rein; wer nicht, bleibt draußen. Dynamische Preise, Hospitality-Pakete, Sekundärmärkte – alles sind Maschinen zur Rentenabschöpfung. Für Familien, Auswärtsfahrer:innen oder Studierende können dieselben Momente, die Gemeinschaft stiften sollen, zu Ausschlussmomenten werden.
Humankapital
Auf dem Papier belohnt der Markt Leistung. In der Praxis entscheidet die Architektur: Verträge, Transferregeln, Sichtbarkeit, medizinische Absicherung. Gerade in unteren Ligen und im Frauenfußball kippen Talent und Fleiß zu oft in schwer ertragbare Doppelbelastungen (Euphemismus der „Dual Career“ im Sport) und Prekarität: kurze Karrierefenster, Nebenjobs, Doppelbelastungen durch Studium, Beruf oder Care-Arbeit. Humankapital ohne Schutz verflüchtigt sich.
Soziales Kapital
Netzwerke sind Hebel – und manchmal verschlossene Tore. Sie öffnen Türen (Tryouts, Jobs, Förderungen), verteilen Aufmerksamkeit, geben Halt. Aber sie regulieren auch Zugang: Gatekeeping, Homophobie, unsichtbare Regeln der Zugehörigkeit. Supporters’ bilden Trusts und Fanprojekte bauen Brücken – aber auch Insidercodes bleiben.
Kulturelles und symbolisches Kapital
Tradition, Mythos, Choreos, Archive, Sterne über dem Wappen – all das erzeugt Anerkennung und Marktnachfrage. Symbolisches Kapital wirkt, weil es geglaubt wird. Es kann Preise erhöhen und Zugänge verknappen; es kann aber auch Räume öffnen, sofern es inklusiv gestaltet ist.
Momente der Ausbeutung – jenseits großer Skandale
Preis- und Zugangslogiken
Das „Erlebnis“ wird in Pakete geschnürt. Wer sich Zugehörigkeit leisten will, zahlt oft mehrfach: Ticket, Streaming, Merch, Gebühren, Sekundärmarktaufschläge. Kleine Beträge addieren sich zu großen Barrieren. Im Stadionalltag zeigen sich Ausbeutungsmomente nicht nur in Schlagzeilen, sondern in stillen Routinen: Ratenkäufe, Zusatzgebühren.
Arbeit an der Atmosphäre
Fans produzieren Wert: Lieder, Choreos, Bilder, Inhalte. Ihre unbezahlte Kreativarbeit ist Teil des Produkts – verwertet durch Vereine, Ligen und Plattformen. Die Grenze zwischen Leidenschaft und Gratisarbeit ist schmal.
Karriereglocke und Dual Careers
Spitzeneinkommen sind hoch, aber kurz. Wer die Peak-Jahre nicht in Rücklagen, Bildung und Netzwerke übersetzt, steht am Ende riskant da. Dual-Career-Modelle sind keine Kür, sondern Risikomanagement: Ausbildung, Zertifikate, generalisierbare Kompetenzen geben Verhandlungsmacht zurück.
Warum mich das Thema persönlich antreibt
Ich erkenne in Interviews und Notizen mein altes Erkenntnisinteresse wieder: Renten entstehen, wo Märkte segmentiert sind und Institutionen den Zugang regulieren. Sichtbarkeit ist selten neutral; Regeln sind nie nur Technik. Der Fußball verdichtet das – weil alles zugleich Kunst, Arbeit, Geschäft und Gemeinschaft ist.
Was ich heute anders machen würde
Stärker triangulieren
Ich würde theoretische Modelle systematisch mit drei Evidenzschienen verschränken: Preisdaten und Vertragsordnungen (Makro), Vereins- und Fanregeln (Meso), Interviews und Beobachtungen (Mikro). So werden Rentenmaschinen konkret: Wo genau wird abgeschöpft? Wer bezahlt? Wer bleibt draußen?
Zeit als Determinante des Kapitals
Ich würde Zeit als Kapital noch analytischer fassen: Karrierefenster, Verletzungspausen, Care-Zeiten, Anstoßzeiten. Viele Ungleichheiten sind am Ende Zeitverteilungen.
Rechte produzieren Renten
Ich würde Bild-, Daten- und Wiederverkaufsrechte als eigenes Feld bearbeiten: Wer verfügt worüber? Wo braucht es Mitsprache und klare Beteiligungsregeln, damit Wertschöpfung fairer verteilt wird?
Was bleibt
Die Brücke zwischen Diplomarbeitsjahren und heutigem Projekt bleibt die Frage nach sozialer Gerechtigkeit (unter Markt- und Machtbedingungen). Fußball zeigt, wie Zugehörigkeit und Ausschluss produziert werden, entlang der genannten Kapitalformen. Mein Anspruch ist, die Maschinen der Rentenabschöpfung sichtbar zu machen und die Hebel der Fairness zu benennen: Preisdisziplin statt Überraschungsaufschlag. Standards für Verträge, Gesundheit und Übergänge. Mitsprache in Fragen der Rechte. Und Räume, in denen neue Codes und Zugehörigkeiten wachsen können.
- Wo genau entstehen heute Renten? Wer kann sie wie auf wessen Kosten abschöpfen?
- Wie werden Dual-Career-Pfade gestaltet, so dass sie Absicherung bieten – besonders im Frauen- und Unterligenfußball? Was treibt die Akteure an?
- Welche Formen von Sozial- und Symbolkapital öffnen Räume, statt sie zu schließen?

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