3.3 Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit

In diesem Kapitel rahme ich Fußballkulturen als öffentliche Arenen, in denen Zugehörigkeit, Deutungshoheit und Affekte verhandelt werden. Zugleich interessieren mich Praktiken der Gegenöffentlichkeit – also Foren, in denen marginalisierte Gruppen ihre Perspektiven sichtbar machen (Fraser, 1990; Warner, 2002). Empirisch analysiere ich Vereinskommunikation, Fankurven, Medienpraktiken und Fan-Selbstorganisation.

3.3.1 Strukturwandel der Öffentlichkeit – normative Leitidee

Fußball ist nicht nur ein Spiel sondern Teil der politisch-kulturellen Öffentlichkeit, die sich historisch wandelt (Habermas, 1962/1990). Öffentliche Aushandlung braucht Zugang, Argumentationsfähigkeit und Respekt – auch wenn reale Öffentlichkeiten immer ungleich sind. Für Fußball heißt das: Stadien, Vereinsmedien und Social-Media-Sphären sind Orte, an denen bürgerlich-liberale Ideale (Diskurs, Teilhabe) auf Marktlogiken, Plattformdynamiken und Affektökonomien treffen (Negt & Kluge, 1972/1986; Warner, 2002).

Heuristik:

  • Wo werden im/um Fußball Themen „allgemeinen Interesses“ verhandelt?
  • Welche Rolle spielen Medienformate (Choreo, Statement-Post, Pressekonferenz)?
  • Wie verschiebt Plattformlogik (Reichweite, Algorithmik) die Bedingungen von Sichtbarkeit?

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3.3.2 Exklusion von Frauen, Arbeiter:innen, Migrant:innen, queeren und anderen Minderheiten

Öffentlichkeit ist nicht neutral: Sie ist geprägt von struktureller Ungleichheit. Mit einem intersektionalen Blick (Crenshaw, 1991) stellt sich die Frage, wie sich Geschlecht, Klasse, Herkunft und Sexualität im Stadion, in Fanclubs und Vereinskommunikation überlagern. Historisch wurden Frauen und Arbeiter:innen in bürgerlichen Öffentlichkeiten oft formal einbezogen, aber materiell ausgeschlossen – etwa durch Habitus-, Sprach- und Zugangsbarrieren. Im Fußball zeigen sich ähnliche Muster (z. B. Gatekeeping in Fankulturen; Prekarisierung von Arbeitskräften rund um den Spielbetrieb). Für nationale Identitäten und Migrationsgeschichten ergänze ich einen diaspora-sensiblen Blick (Brah, 1996; Cohen, 1997/2018), der hybride Zugehörigkeiten ernst nimmt.

Analytische Leitfragen: Wer spricht? Wer wird adressiert? Wer fehlt? Welche Routinen (Ticketing, Kurvencodes, Moderationspraxis) erzeugen Ausschluss?

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3.3.3 Inklusion und Exklusion: regionales und transnationales Erleben von „Diaspora“

Fußball ist Mobilität: Spieler-, Fan- und Mediensphären verbinden Region und Transnationalität. Ich untersuche, wie diasporische Fans (z. B. migrantische Communities, Exil-Fans) Zugehörigkeit räumlich (Heimatstadion vs. Public Viewing) und medial (Livestream, Community-Kanäle) herstellen, wie „wir“ vs. „sie“ markiert wird – und wie Vereine das vermarkten (Cohen, 1997/2018; Gilroy, 1993). Dabei interessieren mich Affektketten (Stolz, Scham, Wut, Fürsorge), die Zugehörigkeit stabilisieren – oder Brüche sichtbar machen.

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3.3.4 Feministische und queere Gegenöffentlichkeiten

An Fraser (1990) anknüpfend verstehe ich feministische, queer-feministische und antirassistische Fanpraktiken als Gegenöffentlichkeiten: eigenständige Foren (Zines, Gruppen, Choreos, Awareness-Konzepte), die dominante Deutungen herausfordern und „von unten“ Sicherheits- und Teilhabestandards neu setzen. Mit Warner (2002) frage ich: Welche Adressierungsweisen (Anrede, Hashtags, Bannertexte) konstituieren Publikum und Szene? Und mit Yuval-Davis (1997) prüfe ich, wie Nation/Geschlecht verschränkt werden – etwa, wenn Nationalfarben mit feministischen Symbolen kombiniert werden.

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3.3.5 Fanclubs als soziale Bewegungen

Fanclubs handeln nicht nur „kulturell“, sondern oft bewegungsförmig: Sie mobilisieren Ressourcen, schaffen Frames („Fußball für alle“, „Kein Platz für …“), nutzen Gelegenheitsstrukturen (Spielplan, Medienmomente) und vernetzen sich transnational. Ich lese solche Praktiken mit der Bewegungsforschung (della Porta & Diani, 2020; Tarrow, 2022). Damit werden Kurvenaktionen, Kampagnen gegen Diskriminierung oder für Ticketpreise als kollektives Handeln verständlich – mitsamt Konflikten, Zyklen und Gegenmobilisierung (z. B. Vereinspolitik, Verbandsrecht, Polizeistrategien).

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Methodischer Hinweis

Ich kodierte das Material (Spielanalysen, Presseschau, Interviews, Fanzines, Social Media) iterativ im Sinn der Grounded Theory: offenes, axiales, selektives Kodieren; Memos zu Öffentlichkeitsformaten, Adressierungsweisen, Ausschluss-/Einschlusspraktiken; fortlaufende Vergleichslogik zwischen Vereinen und Szenen. So entstanden dichte Kategorien wie „Kurven-Adressierung“, „Affektökonomie“, „Zugangsregime“, „Gegenöffentlichkeitspraxis“.

Literatur

  • Habermas, J. (1990). Strukturwandel der Öffentlichkeit (Neuaufl.). Suhrkamp. (Suhrkamp Verlag)
    (Alternative Buchhandel: genialokal.) (genialokal.de)
  • Negt, O., & Kluge, A. (1986/2022). Öffentlichkeit und Erfahrung. Suhrkamp. (Suhrkamp Verlag)
  • Warner, M. (2002). Publics and Counterpublics. Zone Books. (Zone Books)
  • Fraser, N. (1990). Rethinking the public sphere. Social Text, 25/26, 56–80. (Verlag/Journalseite). (Duke University Press)
  • Brah, A. (1996). Cartographies of Diaspora: Contesting Identities. Routledge/Taylor & Francis. (Taylor & Francis)
  • Cohen, R. (1997/2018/2022). Global Diasporas: An Introduction. Routledge. (Routledge)
  • Gilroy, P. (1993). The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness. Verso. (Verso)
  • Yuval-Davis, N. (1997). Gender and Nation. SAGE. (Sage Publications)
  • Crenshaw, K. (1991). Mapping the margins. Stanford Law Review, 43(6), 1241–1299. (JSTOR)
  • della Porta, D., & Diani, M. (2020). Social Movements: An Introduction (3rd ed.). Wiley-Blackwell. (Wiley)
  • Tarrow, S. (2022). Power in Movement (4th ed.). Cambridge University Press. (Cambridge University Press & Assessment)
  • Dunning, E., Murphy, P., & Williams, J. (1988/2014). The Roots of Football Hooliganism. Routledge. (Taylor & Francis)
  • empirischen Mini-Vignetten aus Deinem Material – das macht die Theorie sofort „ankoppelbar“ an Deine Datensätze.

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