2.2.3.9 Goffman: Über die Vorder- und Hinter(tri)bühnen

Teaser

Goffman ist eine weitere Kameraeinstellung für meinen Fußballblick: Auf der Vorderbühne geben wir Fans, Spieler, Vereine eine Rolle; auf den Hinter(tri)bühnen – in Kneipen, WhatsApp-Gruppen, in den Kurven – wird geprobt, korrigiert, geschützt. So erklärt sich, warum manche Gesten im Block groß werden und andere unsichtbar bleiben (Goffman 1959; 1963a; 1967; 1974).

Hinführung

Goffmans Dramaturgie ist für mich ein Werkzeug, um Stadionpraxis zu entschlüsseln. Eindrucksmanagement (1959) trifft auf Interaktionsordnung (1963b): Wir handeln Regeln aus, wer wann „dran“ ist, wann wir „civil inattention“ zeigen und wann wir kollektiv die Szene „aufziehen“. Mit Stigma (1963a) und Frame Analysis (1974) verstehe ich, wie Zuschreibungen sichtbar/unsichtbar gemacht und wie „Spaß“, „Rivalität“ oder „Beleidigung“ gerahmt werden.

Vorderbühne Stadion: Impression Management

Auf der Vorderbühne zeigen wir das Vereinbare: Choreos, Gesänge, Dresscodes, Presse-Statements. Gesicht („face“) wird kollektiv gehalten; Abweichungen werden eingehegt – durch Lacher, Blicke, kurze Zurufe. Spieler und Vereine betreiben ebenso Eindrucksmanagement: Mixed Zones, Medienrhetorik, Social-Media-Kacheln (Goffman 1959; 1967).

Hinter(tri)bühnen: Proben, Regeln, Schutz

Hinter den Tribünen proben wir: Capo-Briefings, „keine Kamera“-Absprachen, Sprechchöre im kleinen Kreis, Materiallager für Choreos. Hier gelten andere Regeln: Fehltritte dürfen passieren, Kritik wird intern geäußert. Backstage ist aber porös – Smartphones, Leaks, Journalist:innen am Zaun (Goffman 1959).

Übergänge & Türpolitik

Zwischen Vorder- und Hinterbühne liegen Übergangsregionen: Zaun, Blockeingänge, Fanläden, Vereinsräume. Türpolitiken entscheiden, wer wohin darf (Akkreditierung, OFC-Status, Szene-Vertrauen). Im öffentlichen Raum des An- und Abmarschs greifen alltagspraktische Ordnungen wie civil inattention – oder sie brechen (Goffman 1963b).

Stigma, Passing & Schutzräume

Mit Stigma (1963a) lese ich die Balance von Sichtbarkeit und Sicherheit: Queere Fans, Migrant:innen, Menschen mit Behinderung navigieren „Passing“ und Selbstschutz. Gegenöffentlichkeiten (Fanprojekte, queere Fanclubs) verschieben die Grenzen der Sagbarkeit; sie sind oft backstage-organisiert und frontstage-symbolisch wirksam (Fahnen, Statements). Das „Hinter(tri)bühnen“-Arbeiten ist hier Ressource – nicht Rückzug.

Frame-Kämpfe: „Spaß“ vs. Beleidigung

Ob ein Ruf „nur Spaß“ ist oder exkludierend wirkt, hängt vom Frame ab: Kontext, Publikum, Timing. Frames lassen sich verschieben – durch Humorwechsel, durch Intervention von Peers, durch klare Vereinsregeln (Goffman 1974). Genau hier setzen Fanarbeit und Prävention an.

Forschungstagebuch (kurz)

In meinen Notizen zu einem Heimspiel: Vor Anpfiff bittet der Capo backstage, heute keine homophoben Sprüche zu „ironisieren“. Im Block fällt der gewohnte Ruf nach einem Fehlpass aus; stattdessen setzt ein selbstironischer Gesang ein. Ich lese das als Frame-Wechsel – möglich geworden durch Hinter(tri)bühnen-Arbeit.

Leitfragen

  • Wo liegen in meinem Feld die Übergänge zwischen Vorder- und Hinter(tri)bühnen – und wer kontrolliert sie?
  • Welche Rituale halten „face“ im Block – und wie werden Fehler backstage bearbeitet?
  • Wie navigieren stigmatisierte Gruppen (z. B. queere Fans) Sichtbarkeit, Passing und Schutz?
  • Welche Interventionen verschieben Frames nachhaltig (Humor, Regeln, Peers)?

Literatur


Entdecke mehr von Fußball-Soziologie

Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert