Teaser
Didier Eribon bietet einen wunderbaren soziologischen Werkzeugkasten an: Er zeigt mir, wie Klassenherkunft, Scham und Homophobie ineinandergreifen – genau jene Mischung, die Fußballräume noch so oft konstruiert und bestimmt: rau, männlich codiert, ambivalent zwischen Solidarität und Ausgrenzung von weiblichen und/oder queeren Gegenöffentlichkeiten (Eribon 2016; Eribon 2004).
Hinführung
Eribon erinnert mich daran, dass ich meinen Verein nie „nur“ über Taktik erlebe, sondern über Zugehörigkeit und Anerkennung. In Rückkehr nach Reims arbeitet er heraus, wie soziale Herkunft und Habitus die Regeln dessen strukturieren, was im Milieu sagbar und zeigbar ist (Eribon 2016). Im Stadion lese ich diese Grammatik u.a. in Choreographien, Gesängen, Blickregimen und „Witzen“ – und genau hier begegnen sich auch Klassenkampf und Geschlechterordnung. Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit liefert mir dafür den Rahmen: dominante Männlichkeitsideale behaupten sich, indem sie andere Formen (queer, vermeintlich „weich“) herabsetzen und unsichtbar machen (Connell & Messerschmidt 2005).
Klassenherkunft, Scham und homophobe Grammatik
Eribon zeigt, dass Homophobie kein Naturgesetz ist, sondern eine erlernte soziale Grammatik des Milieus: Wer dazugehören will, vermeidet „falsche“ Affekte und Körpercodes; wer abweicht, wird sanktioniert – symbolisch und mitunter körperlich (Eribon 2016). Für meine Feldnotizen heißt das: Ich achte auf die stillen Momente – auf ironische Zurufe, auf das Ausweichen von Blicken, auf Lacher, die Zugehörigkeit verhandeln.
Beleidigung als Disziplinartechnik
In Insult and the Making of the Gay Self analysiert Eribon, wie Beleidigungen Identitäten formen. Der homophobe Zuruf ist kein „bloßer Spaß“, sondern eine Technik der Subjektformung: Er markiert Grenzen und erzwingt Selbstzensur (Eribon 2004). Wenn ich im Block höre, wie „weich“ (oder „weibisch“, „mannsweibisch“ statt „weiblich“) als Abwertung funktioniert, sehe ich, wie Disziplin durch düstere, an Alt-Herrenwitze erinnernde Formen von Humor gerahmt wird – und wie schwer es fällt, dem zu widersprechen, ohne den Humorkontrakt zu „brechen“.
Hegemoniale Männlichkeit – mein Analyse-Rahmen
Connell & Messerschmidt (2005) würde die Stadionpraxis als Machtordnung interpretieren: Hegemonie wird nicht ein für alle Mal „durchgesetzt“, sondern in Aushandlungen stabilisiert. Genau hier liegen die Chancen für Veränderung: Wenn marginalisierte Männlichkeiten kollektiv auftreten, verschiebt sich, was sag- und zeigbar ist.
Sichtbare und unsichtbare Gegenöffentlichkeiten: Norisbengel & QFF
Ich erlebe in Nürnberg, wie die Norisbengel – der erste offizielle queere Fanclub des 1. FCN – und das Netzwerk Queer Football Fanclubs (QFF) zwischen Sichtbarkeit und Schutz navigieren. Sichtbar sind Fahnen im Block, Choreos, CSD-Präsenz und offizielle Anerkennungen durch den Verein (z. B. als OFCN sowie als Gastgeber eines internationalen QFF-Treffens). Unsichtbar sind Schutzroutinen: vertraute Wege ins Stadion, Codewörter für riskante Situationen, peer-basierte Deeskalation.
- Die Norisbengel machen seit Jahren sichtbar, dass „Fußball und queer auch geht“ – im Stadion und in der Fanarbeit. Gleichzeitig zeigen ihre Erfahrungsberichte, wie Präsenz dosiert werden muss, um Anfeindungen zu vermeiden.
- QFF bündelt europaweit queere Fanclubs, organisiert Vollversammlungen, positioniert sich gegenüber Verbänden und schafft damit einen Resonanzraum, in dem einzelne Gruppen Rückhalt finden – ein klassischer Fall von Gegenöffentlichkeit, die mal prominent auftritt, mal bewusst im Hintergrund arbeitet.
Diese Beispiele sind für mich mehr als „Best Practice“: Sie sind Affekt-Infrastruktur. Sie verschieben die Sagbarkeit im Block, indem sie Zugehörigkeit anders definieren – nicht gegen den Verein, sondern „für den Club und gegen Homophobie“.
Praxis-Impuls: Wie ich weiterarbeite
Für die weitere Datenerhebung im Projekt setze ich drei Beobachtungsmarker:
- Humorrahmung: Wann werden Homophobie-Äußerungen als „Witz“ getarnt – und wer lacht (nicht)?
- Sichtbarkeitstaktiken: Welche Zeichen (Fahnen, Sticker, Gesänge) werden gesetzt – und wann werden sie wieder eingerollt?
- Mikro-Solidaritäten: Wo intervenieren Peers (Blicke, Platzwechsel, kurze Ansagen), ohne die Situation eskalieren zu lassen?
Leitfragen
- Wie wirken Klassenherkunft und Habitus auf die Reproduktion hegemonialer Männlichkeit im Stadion – und wo bricht sie auf?
- Welche Rolle spielen Beleidigungspraktiken als Affektregime im Block?
- Wie organisieren queere Fanclubs die Balance aus Sichtbarkeit und Sicherheit im männlich-heteronormierten Setting?
- Welche Governance-Instrumente (Vereinsrichtlinien, Stadionordnungen, Fanprojekte) unterstützen diese Verschiebungen konkret?
- Welche Gegenöffentlichkeiten – queer, weiblich, migrantisch – kämpfen um Sichtbarkeit und Akzeptanz auf dem und um das Spielfeld?
Literatur (APA)
- Connell, R. W., & Messerschmidt, J. W. (2005). Hegemonic masculinity: Rethinking the concept. Gender & Society, 19(6), 829–859.
- Eribon, D. (2004). Insult and the Making of the Gay Self. Durham: Duke University Press.
- Eribon, D. (2016). Rückkehr nach Reims. Berlin: Suhrkamp. genialokal. (Frz. Orig. 2009).
Links (Beispiele, Projektkontext)
- Norisbengel – Offizielle Seite: Über uns, Fanarbeit, Gründung.
- FC Nürnberg – Vereinsmeldungen: Erster offizieller schwul-lesbischer Fan-Club; Gastgeber des internationalen QFF-Treffens.
- QFF – Über uns (Netzwerk, Konferenzen): queerfootballfanclubs.org/ueber-uns.

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