2.2.3.20 Jutta Allmendinger: Warum jedes Spiel ein Konzert auf der Genderklaviatur ist

Teaser

Mit Jutta Allmendinger verbinde ich zum einen ihr soziologisches Werk rund um die Themen soziale Ungleichheit und Chancengleichheit. Zum anderen verbinde ich mit ihr meine Zeit an ihrem Lehrstuhl. Dort wurde mich im besten Sinne des Wortes soziologisch sozialisiert. Aus ihrem Werk lese / höre ich im Stadion auch stets ein Spiel auf der Genderklaviatur: Pay‑, Care‑, Positions‑ und Pensions‑Gap klingen in jeder Begegnung mit – mal leise, mal laut. Fußball ist auch ein Konzert aus Affekten und Ungleichheiten: Wer spielt welche Tasten, zieht Register, gibt den Takt vor? Und wer bleibt dabei noch immer unsichtbar / besten Falls weniger sichtbar? (Allmendinger 2021).

Hinführung

Allmendinger zeigt, wie Organisationen Geschlechterordnungen herstellen – und wie Integration gelingt, wenn symbolische Türen und reale Zeitbudgets sich öffnen. Ihr Aufsatz mit Hackman über professionelle Organisationen (1994) inspiriert mich für den Fußball: Dort kippen Wahrnehmungen, wenn Frauenanteile wachsen – Akzeptanz steigt, Token‑Effekte lassen nach. Mit Blick auf unsere bisherigen Kapitel (Weber, Goffman, Rosa) lese ich: Affekte sind nicht „nur“ individuell; sie werden organisiert, gerahmt und verteilt – entlang geschlechteter Regeln und Ressourcen.

Leider weiß ich nicht mehr, welches Spiel der Frauen-EM es war. Einer der Kommentatoren sagt nach dem Spiel zu seiner Co-Kommentatorin: Sie macht ja jetzt das Staatsexamen in Jura und [eine andere Spielerin] promoviert nebenbei. Das ist außergewöhnlich. Worauf die Kommentatorin trocken reagiert: Ja, bei den Männern vielleicht. Mit diesem Wortwechsel ist viel gesagt. Unter anderem, dass sich Phänomene wie Doppelbelastung auch auf dem Bolzpklatz wiederfinden.

Die Genderklaviatur im Stadion: vier Register

  • Pay‑Gap (Geld & Prestige): Bezahlung und Sichtbarkeit prägen, welche Emotionen Bühne bekommen – Männerligen werden als „wichtiger“ gerahmt; Sponsoring verstärkt den Nachhall.
  • Care‑Gap (Zeitregime): Anstoßzeiten, Auswärtslogistik und Ehrenamt treffen auf ungleich verteilte Sorgearbeit – wer weniger Zeitwohlstand hat, kommt seltener in die Kurve oder ins Gremium.
  • Positions‑Gap (Entscheidungsmacht): Vorstände, Trainer:innen, Verbandsausschüsse bleiben männlich dominiert; Entscheidungen über Rituale, Sicherheit, Budgets sind damit voreingerahmt.
  • Pensions‑Gap (Langzeitfolgen): Karrieren nach der Karriere, Rentenansprüche – wer in der aktiven Zeit weniger verdient, bleibt auch später leiser im symbolischen Kapital des Vereins (Allmendinger 2021).

Organisation statt Tokenism: Was Integration stabil macht

Aus Allmendinger/Hackman (1994): Integration ist keine reine Willensfrage. Strukturen zählen – Anteile, Routinen, Räume. Wenn Frauen‑ und queere Stimmen kritische Masse erreichen, verschiebt sich Alltagsdeutung: von „Ausnahme“ zu Normalfall. In der Praxis des Fußballs heißt das:

  • Rekrutierung: aktive Pipeline für Trainerinnen, Schiedsrichterinnen, Fanprojekt‑Leitungen.
  • Regelarbeit: feste Redeanteile in Gremien, transparente Wahlmodi, verlässliche Amtszeiten.
  • Räume: sichtbare, sichere, barrierearme Zonen; Toiletten‑/Wegführung als Infrastruktur der Gleichheit (Acker 1990; West & Zimmerman 1987).

Zweckrationalisierte Affektökonomie aus Gendersicht

Wie im Kapitel zu Weber gezeigt, werden Affekte zweckrational gerahmt: Liedfolgen, Choreopläne, Ticketing. Auf der Genderklaviatur heißt das:

  • Emotionale Arbeit (Care in der Szene: Kasse, Basteln, Orga) wird oft still feminisiert – und bleibt unsichtbar, obwohl sie Stimmung ermöglicht.
  • Sichtbare Ekstase (Capo‑Positionen, Vorsängerrollen) wird häufiger maskulin besetzt – und als „natürlicher“ Teil der Vorderbühne gedeutet (Goffman).
  • Doppelbelastung: schlecht bezahlt –> Frauen haben zwei Karrieren (und Familie?) zu stemmen.
  • Resonanzachsen (Rosa) reagieren sensibel auf Zeit‑ und Raumregime: Wer spät anpfeift, sortiert Teilhabe.

Corona als Stresstest: Zurück in alte Rollen

Allmendinger beschreibt für die Pandemie eine Retraditionalisierung: Sorgearbeit kehrte in die Privathaushalte zurück, öffentliche Unterstützungen fielen weg. Im Fußball bedeutete das: weniger Frauen in Ersatzarenen (Watch‑Partys, Gremien‑Calls), brüchiger Nachwuchs in Szenen – bridging erlitt Dämpfer, bonding blieb im Kern (vgl. unser Putnam‑Kapitel). Der Effekt hallt nach: Wer in Krisen aussortiert wird, kommt später schwerer zurück. Wie unterschiedlich waren/sind die Auswirkungen für die Geschlechter?

Praxis: fünf Stellschrauben für die Genderklaviatur

  1. Zeitregime: familienfreundliche Anstoßzeiten, hybride Gremien, Kinder‑/Care‑Support bei Auswärtsfahrten.
  2. Repräsentation: verbindliche Zielwerte für Frauen/queere Personen in Vorständen, Schiri‑Teams, Nachwuchscoaching.
  3. Infrastruktur: sichere Wege, Toiletten, Awareness‑Teams; klare Meldewege ohne Beichtökonomie.
  4. Sichtbarkeit: paritätische Medienflächen, Storylines jenseits Stereotype (Kompetenz, Taktik, Leadership).
  5. Ressourcen: Budgets für Nachwuchs‑ und Community‑Programme, die Symbolkapital aufbauen – nicht nur „Events“.

Forschungstagebuch (kurz)

In meinen Notizen aus zwei Wochen: Vorstandssitzung (nur eine Frau, zuständig für Kommunikation), Jugendturnier‑Orga (mehrheitlich Frauen), Kurvensteuerung (alle Capos männlich). Ein Workshop kippt, als die Anstoßzeit auf 20:45 Uhr verlegt wird – drei Mütter, ein Pflegeangehöriger fallen aus. Genau hier höre ich die Genderklaviatur: dieselbe Szene klingt anders, je nachdem, wer spielen kann.

Leitfragen

  • Welche Zeit‑ und Raumregime schließen wen aus – und wie lassen sie sich umbauen?
  • Wo fehlen kritische Massen für stabile Integration – und wie baue ich Pipeline statt Token?
  • Welche emotionalen Arbeiten sind unsichtbar – und wie werden sie anerkannt?
  • Wie verändern Krisen (Pandemie, Pflegeengpässe) die Stimmverteilung auf der Genderklaviatur langfristig?

Literatur (APA)


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