Teaser
Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft zeigt mir, wie Abweichung produziert und verwaltet wird; Überwachen und Strafen erklärt mir die Disziplinarmechaniken von Stadionordnung bis Stadionverbot; Sexualität und Wahrheit öffnet den Blick auf Bekenntnisse, Normen und Körperpolitiken. So lässt sich deuten, warum der Fußball zugleich leidenschaftlich, kontrolliert und moralisch durchreguliert erscheint (Foucault 1961/1973; 1975/1976; 1976).
Hinführung
Foucault interessiert sich für Praktiken, nicht für Essenzen. Im Fußball beobachte ich Techniken der Subjektivierung (wie wir zu „Fans“, „Hooligans“, „Vorzeigefamilien“ werden) und Arrangements der Macht (Zugang, Sichtbarkeit, Sanktion). Ich knüpfe an unsere Kapitel zu Weber (Zweckrationalisierung von Affekten), Goffman (Vorder-/Hinterbühnen) und Beck (Risiko) an: Was wie bloßes Chaos wirkt, folgt Regimes der Ordnung – und produziert gerade dadurch neue Affekte.
Wahnsinn und Gesellschaft: Abweichung, Diagnose, Verwaltung
Statt „der eine verrückte Fan“ interessiert mich die Produktion des Abweichenden: Wer definiert, was „über die Stränge schlagen“ heißt? Wer stellt Diagnosen („Hochrisikospiele“), wer verwaltet sie (Dateien, Auflagen, Meldepflichten)? So entstehen Institutionen (Sicherheitsgremien, Fanprojekt-Büros), die Abweichung sichtbar und bearbeitbar machen – und zugleich Stigmata erzeugen (Foucault 1961/1973).
Überwachen und Strafen: Panoptiken im Fußball
CCTV, Drehkreuze, personalisierte Tickets, Zonen- und Türpolitik – das sind Disziplinartechniken. Das Stadion wird zum panoptischen Raum: Wenige sehen viel, viele internalisieren Regeln. Stadionverbote, Awareness- und Deeskalationsprotokolle, VAR und Audit-Logiken ordnen Verhalten, schaffen Dossiers und normalisieren Abweichung über Kataloge von Strafen und Pflichten (Foucault 1975/1976). Gleichzeitig entstehen Gegenpraktiken: Banner-Verbote werden kreativ umgangen, Kameras mit Fahnen verdeckt, Routen verlagert.
Sexualität und Wahrheit: Bekenntnisse, Normen, Körper
Foucault zeigt, dass Moderne nicht Schweigen heißt, sondern Sprechen, Beichten, Testen, Befragen. Im Fußball sehe ich Bekenntniskulturen – von Schuldzuweisungen nach Pyro bis zu (seltenen) Coming-outs und Doping-„Geständnissen“. Wahrheitsregime (Medizin, Recht, Verbände) definieren, welche Körper „zulässig“ sind (Dopingkontrollen, Gender-Regularien). Gleichzeitig produzieren Fankulturen Gegenwahrheiten (Erfahrungsberichte, Solidaritätschöre), die Normen irritieren (Foucault 1976).
Affektökonomie unter Machtregimen
Disziplin dämpft Affekte nicht einfach; sie formt und kanalisiert sie (Weber). Die Lust an der kontrollierten Unkontrolliertheit (Elias/Dunning) steigert sich paradox durch Überwachung: Je enger die Regeln, desto raffinierter die Mikro-Überschreitungen (Timing, Codes, Seitenwechsel). Becks Unsicherheiten treten als Nebenfolgen der „Lösungen“ auf – und befeuern neue Debatten.
Praxisfenster
- Transparenz statt Moralkeule: Sanktionen erklären (Zweck, Dauer, Ausstieg).
- Deeskalation als Gegenmacht: Peer-Interventionen, die Würde sichern und Gesichtsverluste vermeiden.
- Körperpolitiken prüfen:
Doping/Gender-Prozeduren menschenrechtlich rahmen;Coming-outs als Sicherung statt als Zwang denken.
Forschungstagebuch (kurz)
In meinen Notizen zu einem Hochsicherheitsspiel: Vor dem Einlass starre Kontrollen; im Block entstehen Mikro-„Panoptiken“ (Blicke, Selbstdisziplin). Später kippt die Stimmung online in eine Beichtökonomie („Wer hat begonnen?“). Für mich zeigt der Tag Foucaults Pointe: Macht produziert Subjektivität – und Affekte sind ihre Rohstoffe.
Leitfragen
- Wo greifen Disziplinartechniken (Kameras, Tickets, Verbote) – und wo erzeugen sie Nebenfolgen?
- Werden die Geschlechter gleichermaßen überwacht und diszipliniert oder gibt es Unterschiede?
- Welche Bekenntnisformen (Geständnis, Schuldzuweisung, Coming-out) strukturieren Wahrheit im Fußball?
- Wie lassen sich Gegenwahrheiten und Gegenpraktiken so einbinden, dass sie Sicherheit erhöhen statt Fronten verhärten?
- Welche Affekte entstehen durch Überwachung – und wie wirken sie auf Regeln zurück?
Literatur (APA)
- Foucault, M. (1961/1973). Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Suhrkamp. Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft
- Foucault, M. (1975/1976). Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Suhrkamp. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses
- Foucault, M. (1976). Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Suhrkamp. Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1
- Giulianotti, R. (2005/2015). Sport: A Critical Sociology (2nd ed.). Routledge. Sport: A Critical Sociology
- Lyon, D. (2007/2018). Surveillance Studies / The Culture of Surveillance. Polity. The Culture of Surveillance
- Pearson, G. (2012). An Ethnography of English Football Fans: Cans, Cops and Carnivals. Manchester University Press. An Ethnography of English Football Fans: Cans, Cops and Carnivals
- Fassin, D. (2013). Enforcing Order: An Ethnography of Urban Policing. Polity. Enforcing Order: An Ethnography of Urban Policing

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